Bequem, aber sexy: So soll Unterwäsche sein. Und zum Glück gibt’s neben chinesischer Massenware und amerikanischer Push-up-Philosophie noch Labels wie LYN Lingerie, dessen hauchzarte Dessous in Zürich von Evelyn Bozzolini und Ramona Keller designt und produziert werden. Ein Interview mit dem Schweizer Duo übers gegenseitige Motivieren, den Gang nach Paris und Designen als Traumberuf.
FACES: Wie seid ihr zur Lingerie und zu eurem Label LYN Lingerie gekommen?
Evelyn Bozzolini: Ich habe zuerst Damenschneiderin gelernt und danach Modedesign studiert, wo ich dann meine Diplomarbeit der Unterwäsche gewidmet habe. Ich war total fasziniert von den Stoffen, Passformen und Schnitttechniken. Kurz darauf haben Ramona und ich uns kennengelernt und fortan bei vielen Projekten zusammengearbeitet.
F: Was ist das Grossartige an Lingerie? Ich stelle mir den Schwierigkeitsgrad im Vergleich zu normaler Kleidung deutlich höher vor.
Ramona Keller: Lingerie ist natürlich in Sachen Verarbeitung etwas komplett anderes als normale Kleidung. Du erlernst die Verarbeitung und Herstellung von Unterwäsche nämlich gar nicht während der Ausbildung – weder beim Schneidern noch in der Design-Ausbildung. Lingerie wird immer nur am Rande behandelt. Schon die Schnitttechnik ist deshalb beispielsweise eine grosse Herausforderung, eine weitere stellt die Tatsache dar, dass man Unterwäsche direkt auf der Haut trägt. Ebenfalls schwierig: Dir steht bei Lingerie nur ein gewisser Raum zur Verfügung, es sind viele kleine Teile, aus denen du etwas Schönes machen musst.
EB: Und die Materialbesorgung ist ebenfalls sehr schwierig. Wir können uns wahnsinnig glücklich schätzen, dass St. Gallen als Stickereihochburg so nahe liegt und wir uns dort Stoffe und Materialien für unsere Kollektionen besorgen können. Aber besonders die Kleinteile – ein BH besteht aus so unglaublich vielen Einzelteilen – waren für uns zu Beginn eine riesige Herausforderung. Mittlerweile haben wir unsere fixen Lieferanten und uns ein gutes Netzwerk aufgebaut – bis hierhin hat es aber sehr viel Zeit gebraucht.
F: Was sind andere Steine, die ihr in den vergangenen Jahren aus dem Weg räumen musstet?
EB: Den ganzen Weg. (lacht)
RK: Das Dranbleiben, weitermachen und durchhalten.
EB: Wir mussten uns immer wieder von Neuem motivieren.
F: Wie motiviert ihr euch denn?
RK: Es hilft extrem, dass wir als Duo agieren. Wir schaffen es immer wieder aufs Neue, uns gegenseitig aufzubauen. Wir wechseln uns da immer ab: Hat die eine gerade ihr Tief, hat die andere ihr Hoch.
EB: Man gibt sich gegenseitig Kraft. Auch Events wie die Mode Suisse oder andere Ausstellungen und Modeschauen motivieren einen dazu weiterzumachen.
F: Es ist für die Mode eine schwierige Zeit. Man thematisiert ständig, wo Kleidung herkommt, wo sie produziert und verarbeitet wird; der Konsument ist heute viel kritischer als früher und informiert sich zusätzlich über die sozialen Medien. Erschwert dieser Umstand eure Arbeit?
EB: Ehrlich gesagt ist der Druck für uns deutlich leichter geworden als zu Beginn. Da war es wirklich schlimm, und es hat lange gedauert, bis es endlich besser wurde. Die vergangene Saison ist für uns extrem gut gelaufen, auch weil wir unsere Schnitte ausgebaut und für unsere Kunden zugänglicher gemacht haben. Wir sind etwas vom Abstrakten weggekommen und haben diese Saison vermehrt auf klare Linien gesetzt. Unsere Herausforderung ist, dass die Teile tragbar sein müssen und dass man sie ohne Nachdenken in die Waschmaschine geben kann.
RK: Die Produktion war bei uns nie ein grosses Thema, weil wir von Beginn weg alles selber und in der Schweiz produziert haben. Wir haben schon immer darauf geachtet, dass wir unsere Materialien in der Schweiz oder in Europa beziehen. In China zu produzieren, kam für uns gar nie in Frage.
F: Die Preise eurer Dessous liegen nicht weit weg von denen der Kollektionen namhafter Hersteller, die in Kambodscha oder Bangladesch produzieren lassen.
EB: Wir machen unsere Berechnungen und legen unsere Margen fest. Ausserdem nähen wir extrem schnell und optimieren unsere Schnitte während der Produktion fortlaufend, um effizient arbeiten zu können und unsere Teile in ein Preissegment zu bringen, indem sich unsere Kunden wohlfühlen. Da kalkulieren wir nicht extra in die Höhe, um unsere Gewinne zu steigern.
F: Dann ist es doch erschreckend, wenn man sieht, dass andere einfach riesige Margen auf ihre billig produzierte Ware knallen.
EB: Das ist leider so.
F: Dessous sind etwas, das jeder braucht. Trotzdem befindet ihr euch mit euren Kollektionen in einem Nischenmarkt, indem ihr als kleiner Player gegen grosse Konkurrenz antritt. Wie behauptet ihr euch gegen die anderen?
EB: Unsere Argumente liegen auf der Hand: Die Kollektionen sind handgemacht, unsere Designs überraschen, und die Materialien stammen aus der Schweiz oder dem nahen Ausland. Aber man kann es natürlich nicht schön reden: Der Konsument muss unseren Ansatz verstehen und sich dafür begeistern, um unsere Kollektionen zu kaufen.
F: Sind Schweizer in Sachen Dessous offen?
EB: Eher nicht. (lacht) Ich habe das Gefühl, die Herangehensweise lockert sich von Zeit zu Zeit, aber der Unterschied zum Ausland ist enorm. Wir haben mit der Mode Suisse auch in London und Paris ausgestellt, und dort ist der Bezug der Menschen zur Unterwäsche ein ganz anderer.
F: Wie nehmt ihr die Reputation der Schweizer Designer im Ausland wahr?
EB: In Paris hören wir stets: „Ach, ihr seid aus der Schweiz?!“ Die Wahrnehmung Schweizer Designer im Ausland verbessert sich aber merklich. Wir sind eben ein kleines Land, aber die Stichworte „Swissness“ und „Swiss made“ ziehen und stehen für Qualität. Ein Nachteil ist aber, dass alle immer denken, unsere Teile seien wahnsinnig teuer – das ist so ein Vorurteil, was andere über Schweizer Produkte haben.
F: Werden eure Preise fürs Ausland nochmals angepasst?
RK: Je nachdem passen wir die Preise etwas an, vor allem wenn der Dollar so stark schwankt, wie er das aktuell tut.
F: Und andere Labels haben auch hier wahnsinnig grosse Unterschiede in den Preisen in der Schweiz und im Ausland.
RK: Generell fragt man sich, wie andere ihre BHs für knapp zehn Franken verkaufen können. Ein BH hat normalerweise zwischen 20 und 50 Teilen und dauert in der Grossproduktion circa 25 Minuten. Zum Vergleich: Eine Jeans zu fertigen, dauert nur neun Minuten.
EB: Es ist traurig, darüber darfst du nicht nachdenken.
F: Und bei euch steht vorher noch der Designprozess an.
EB: Es ist ein wahnsinnig langer Weg von der Idee bis zum fertigen Produkt. Man experimentiert mit Materialien, die dann nicht so wollen wie man selbst, man testet einen Prototyp und verändert diesen immer und immer wieder. Aber das Gute daran ist, dass wir selber immer mehr dazulernen und uns fortlaufend verbessern.
F: Ihr hattet früher ein eigenes Geschäft und direkten Kundenkontakt, heute vertreibt ihr eure Kollektionen im eigenen Onlineshop und über andere Shops. Vermisst ihr den direkten Kundenkontakt?
EB: Wir haben diesen immer sehr geschätzt, es war für uns aber definitiv die richtige Entscheidung, unser eigenes Geschäft abzugeben. Einen eigenen Laden zu führen, die Kollektionen aufzubauen und zu produzieren, Shows zu realisieren und unsere Kollektionen auszustellen war mit der Zeit einfach zu viel für uns – wir mussten uns an einem Punkt einfach entscheiden. Dessous-Geschäft oder eigene Kollektion: Das war für uns eine so einfache Entscheidung. Wir sind Designer, keine Verkäufer.
F: Wie wichtig ist Weiterentwicklung für euch?
EB: Wir wollten unbedingt ins Ausland, das war für uns der wichtigste Schritt. Die Schweiz ist einfach ein unglaublich kleiner Markt.
F: International gibt es aber natürlich noch viel mehr Konkurrenz – zum Beispiel Victoria’s Secret…
EB: Das ist einfach eine ganz andere Story als unsere.
RK: Sehr amerikanisch! Ihr Verkaufsargument ist ja eigentlich der Push-up-BH, bei dem man allerdings gar nichts sehen darf. Sozusagen das absolute Gegenteil von uns; wir machen viel mehr leichte und feine Designs, die den natürlichen weiblichen Körper unterstützen und diesen nicht in etwas quetschen, was er nicht ist.
F: Schaut ihr auf die Trends der grossen Player?
EB: Wir machen unsere eigenen Trends. (lacht) Natürlich informieren wir uns über die Farbtrends zum Beispiel, wir arbeiten aber dennoch sehr viel mit Schwarz und Weiss, und das macht uns viel Spass.
RK: Und trotzdem ist es wichtig, Ohren und Augen offen zu halten und im Blick zu haben, was andere tun. Wir setzen dann Trends aber auch so um, wie es uns gefällt.
F: Wie ist der Umgang mit den anderen Schweizer Designern?
EB: Es ist ein sehr freundschaftlicher Umgang. Wir sind sehr offen miteinander, die Stimmung ist sehr gut.
RK: Die Schweiz ist so klein, und gerade deshalb muss man doch zusammenhalten und am selben Strang ziehen. Das Bild der Schweizer Designer gegen aussen soll einheitlich sein.
F: Soll man sich in euren Dessous wohl oder sexy fühlen?
RK: Das eine soll das andere nicht ausschliessen – und genau das ist unser Credo. Unsere Teile müssen bequem sein, sollen einem aber auch ein gutes Gefühl geben. Es geht mehr um einen selber als um die Sicht von außen.
F: Gibt es Dinge in eurem Alltag als Designer, die euch gar nicht gefallen?
RK: Zuschneiden. (lacht) Ich finde unseren Ablauf extrem spannend, das macht unseren Beruf auch so vielseitig. Man beginnt mal mit Designen, sucht dann Materialien und fährt danach mit der Produktion fort.
EB: Nach einer intensiven Produktionsphase freut man sich dann aber schon mal wieder aufs Designen. Wenn auch einfach mal zu nähen und zu produzieren den Kopf frei machen. Jeder Monat ist anders, und das ist total spannend.
F: Seid ihr vor der Präsentation eurer Kollektionen noch nervös?
EB: Mit Kritik muss man leben. Zu Beginn haben wir uns jede Kritik extrem zu Herzen genommen – und das soll man auch, solange diese gerechtfertigt ist. Mittlerweile haben wir aber gelernt, damit umzugehen. In Paris waren wir extrem nervös, weil wir da vor Fachpublikum der Unterwäschebranche präsentiert haben. Und die entscheiden dann innerhalb von drei Sekunden, ob die Kollektion für sie in Frage kommt oder nicht. Da weiss man aber zumindest immer, woran man ist.
F: Was macht einen guten Tag aus?
RK: Der Kaffee am Morgen. (lacht)
EB: Die richtig tollen Tage sind, wenn du abends nach Hause gehst und weißt, dass du ein neues Teil entworfen hast. Darüber freue ich mich riesig, über ein neues Design und einen gelungenen Prototyp. Solche Tage liebe ich.
F: Rückblick: Was habt ihr früher falsch gemacht?
RK: Wir hätten früher ins Ausland gehen sollen. Das ist so ein typisches Schweizer Ding, dass man nicht über seinen eigenen Schatten springt und ein wenig zu bescheiden ist. Wir haben lange gedacht, wir wären noch nicht so weit gewesen.
EB: Ja, dieser Schritt dauerte wirklich ewig. Paris hatte uns sogar schon angefragt, und wir hatten ihnen damals abgesagt…
F: Nein! Weshalb?
EB: Sie meinten dann irgendwann: „Ihr könnt da im Lafayette in einem Pop-up-Store verkaufen, habt ihr euch das gut überlegt?“ Und dann meinten wir dann, ja gut, das machen wir. Die Erklärung ist einfach: Wir hatten einfach Angst, diesen Schritt zu machen. Im Nachhinein war das so cool, und wir waren selbst überrascht, wie gut LYN Lingerie angekommen ist.
F: Also ein bisschen mehr Selbstvertrauen für die Zukunft.
EB: Ja unbedingt! Wir sind eben verletzlicher, gerade weil uns jedes Teil so sehr am Herzen liegt.
RK: Es ist schwierig, weil man in der Schweiz nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten hat. Wir sind da etwas alleine.
EB: International stehst du neben 100 anderen Labels. Da muss man schon den Mut haben, loszugehen. Und es ist auch ein finanzielles Wagnis.
F: Ist Designer für euch ein normaler Beruf?
EB: Man muss mit Leib und Seele dabei sein, Designer ist nicht einfach nur ein Beruf. Man muss es lieben, denn man opfert auch sein Privatleben.
RK: Es ist definitiv nicht der einfachste Weg. Vielleicht wäre ein Wirtschaftsstudium besser gewesen. (lacht)
EB: Wir könnten uns heute kein anderes Leben vorstellen, wir kommen jeden Morgen gerne ins Atelier, arbeiten auch am Abend oder am Sonntag, dafür sind wir selbstständig und können alles selber entscheiden.
F: Fahrt ihr denn auch in den Urlaub?
EB: Mittlerweile ja, wir nehmen klassisch Urlaub und haben unser Arbeitspensum. Es gab schon Jahre, in denen wir weniger Urlaub hatten…
RK: Aber da waren wir dann auch weniger produktiv.
F: Irgendwo muss man ja seine Kreativität herholen.
EB: Genau! Das waren Fehler, die wir früher gemacht haben! Wir haben früher um neun Uhr früh das Geschäft geöffnet und wollten bis halb acht Uhr abends ausharren. Und dann haben wir erst gemerkt, dass die Leute vor elf Uhr morgens gar keine Unterwäsche einkaufen. Da haben wir uns früher schon selbst Steine in den Weg gelegt, als wir die Erfahrung noch nicht hatten. Wir haben uns damals auch nur knapp zwei Wochen Urlaub gegönnt – aber das war einfach nichts. Wir mussten das auch erst lernen.
F: Ein zusammengefasster Rat an euer jüngeres Ich?
EB: Nimm es etwas lockerer, mach keine Schnellschüsse, denk besser darüber nach, welche Dinge für einen selbst und das Label wirklich Sinn machen. Vermeide Dinge, die unglaublich viel Aufwand bedeuten und bei denen dann nicht so viel rausschaut. Man muss sich konzentrieren und auch nur die Events mitmachen, die einen weiterbringen. Irgendwie war es aber trotzdem wichtig, diese Fehler zu machen, um daraus zu lernen.
RK: Man soll sich selber treu bleiben, das ist ganz wichtig.
F: Fast schon abgedroschen, aber wahr.
RK: Absolut abgedroschen. (lacht)
EB: Aber es ist genauso, man darf sich nicht verbiegen.
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