Häusliche Gewalt gegen Frauen ist keine Seltenheit, sondern leider allgegenwärtig. Das Buch „(Un)erhört“, welches am 25. November erscheint, gibt überlebenden Frauen ein Bild und eine Stimme. Im Interview erzählen uns die Menschenrechtsaktivistin Romy Stangl und die FotografInnen Anna Clara Schrenker und Peter Müller, warum sich dieses Buch an alle Menschen richtet und wie sie das Projekt angegangen sind.

FACES: Erinnert ihr euch an einen spezifischen Moment, der den Startschuss für das Buchprojekt setzte?
Anna Clara Schrenker: Als ich Bilder für eine Ausstellung bei Peter gedruckt habe, fanden wir es schade, dass nach der Ausstellung das Thema mit den Bildern zusammen wieder „eingemottet“ wird. Und da Peter mit Romy Stangl auch schon Bilder mit einer Frau, die Gewalt erlebt hat, gemacht hatte, kam uns beiden die Idee, noch mehr Frauen zu finden, die eine ähnliche Geschichte haben. Mit unseren Fotos wollten wir den Frauen, die Gewalt erlebt haben, eine Chance geben, sich als „Gewinnerinnen“ aus diesem Gewaltszenario zu präsentieren. Zu zeigen, dass sie noch da sind, stärker als zuvor und bereit sind sich dem Leben mit ihrer Geschichte zu stellen und weiter zu machen.
Romy Stangl: Peter kam damals auf mich zu und erzählte mir von der Idee, die er gemeinsam mit Anna Clara entwickelt hatte. Ich erinnere mich noch genau an den Moment – es war für mich eine Mischung aus Freude und tiefem Respekt, als er fragte, ob ich Teil des Projekts sein möchte. Wir kennen uns schon viele Jahre, und Peter hat einige der prägendsten Phasen meines Lebens fotografisch begleitet – besonders in der Zeit, in der ich begonnen habe, mit dem Erlebten (häusliche Gewalt in der Kindheit und einer Partnerschaft) abzuschließen.
Unser erster Austausch zu dritt war sehr intensiv, ehrlich und es war schnell klar für uns: Das hier soll nicht einfach nur ein Buch werden – es soll ein Raum sein für Wahrheit, Verstehen, Aufklärung und Mut. Ein Buch, das zum Nachdenken, Mitfühlen, Analysieren und Verstehen einlädt. Das Betroffenen und Überlebenden ihre Stimmen und ihr Ansehen wiedergibt. Und das nach dem französischen Vorbild – zum Umdenken aufruft: „Die Scham muss die Seite wechseln.“
F: Wie seid ihr vorgegangen, um Betroffene zu finden, die ihre Geschichte offen teilen wollen?
RS: Mit sehr viel Achtsamkeit, Respekt und Zeit. Uns war von Anfang an bewusst, dass wir mit diesem Projekt einensensiblen, schmerzhaften und intimen Raum betreten – und dass Vertrauen dabei die wichtigste Grundlage ist. Viele der Frauen kamen über persönliche Netzwerke zu uns. Einige kannten uns oder kannten jemanden, der uns kannte. Manche Frauen haben sich auch direkt bei uns gemeldet, nachdem sie von dem Projekt gehört hatten. Wir haben von Anfang an ganz transparent kommuniziert: Niemand muss alles erzählen. Alles darf, nichts muss.
F: Der Fokus auf Fotografie verleiht dem Projekt eine künstlerische Note. In welchem Bereich siedelt ihr selbst das Buch an?
AS und PM: Das Buch hat bewusst einen hybriden Charakter Bildband mit hohem journalistischen Anteil. Man könnte es auch als Sammelband mit Geschichten von Frauen, die Gewalt erlebt haben, bezeichnen. Ehrlich gesagt, ist das für uns auch zweitrangig. Das Buch ist nach unserer Kenntnis eins der ersten Werke dieser Art, in dem Frauen ihr Gesicht zeigen und ihre Geschichte dazu veröffentlichen.
„Wir erhoffen uns, dass dieses Buch ein Weckruf wird“


F: Ganz allgemein: Was erhofft ihr euch vom Buch?
AS und PM: Wir wollen mit dem Buch zeigen, wie diese Frauen heute in der Gesellschaft immer noch um Verständnis, Hilfe und Anerkennung ihrer Erlebnisse kämpfen müssen. Gewalt in der Beziehung kann jede Frau treffen, jung oder alt, arm oder reich, egal welcher Religion oder Region sie entstammen, gut oder weniger gut ausgebildet, auf dem Land wie in der Stadt. Aber die Gesellschaft gibt immer noch vor, dass Gewalt in der Beziehung ein Thema von Randgruppen sei und nicht in der Mitte der Gesellschaft passiere. Mit diesem Vorurteil wollen wir mit dem Buch etwas entgegensetzen.
RS: Wir erhoffen uns, dass dieses Buch ein Weckruf wird – für eine Gesellschaft, die viel zu oft wegsieht, verharmlost oder mit Vorurteilen reagiert, wenn es um Partnerschaftsgewalt geht. Unser Wunsch ist, dass „(Un)erhört“ nicht nur gelesen, sondern wirklich gefühlt wird. Dass die Geschichten und Porträts der Frauen berühren, aufrütteln und zum Nachdenken anregen. Wir wollen, dass LeserInnen die Tragweite von häuslicher Gewalt verstehen – nicht als Einzelfälle oder „Problem anderer“, sondern als gesellschaftliche Realität, die uns alle angeht. Wir hoffen, dass das Buch Betroffenen Mut macht. Dass sie sich wiedererkennen, sich weniger allein fühlen – und vielleicht den ersten Schritt in Richtung Hilfe gehen. Und wir wünschen uns, dass es Verständnis schafft bei all denen, die noch nie direkt betroffen waren, aber bereit sind zuzuhören, hinzusehen und Verantwortung zu übernehmen. Vor allem aber soll das Buch dazu beitragen, dass sich die Scham endlich verschiebt – weg von den Überlebenden, hin zu den Tätern und zu den Strukturen, die Gewalt ermöglichen oder verharmlosen.
F: Wer soll das Buch am dringendsten lesen und anschauen und warum?
AS und PM: Als erstes die Frauen, die Gewalt erleben. Vielleicht ermutigen sie die Geschichten in dem Buch, eine gewalttätige Beziehung zu verlassen. Das wäre das „schönste“ Ergebnis des Buches. Weiter wollen wir PolitikerInnen und EntscheiderInnen erreichen, die die Macht haben, in der Gesellschaft etwas für die Frauen und gegen die Gewalt zu verändern. Medien und Multiplikatoren um dem Thema mehr Gewicht in der Öffentlichkeit zu geben, um so auch Druck auf die Entscheider zu entwickeln.
RS: Am dringendsten sollten es jene lesen und anschauen, die glauben, mit dem Thema nichts zu tun zu haben. Menschen, die sagen: „Sowas passiert nicht in meinem Umfeld“ oder „Ich würde sowas sofort erkennen“. Denn genau darin liegt das Problem: Partnerschaftsgewalt ist oft unsichtbar – sie findet mitten unter uns statt, hinter verschlossenen Türen, in allen gesellschaftlichen Schichten. Das Buch richtet sich auch an alle, die bereit sind hinzusehen, aber auch an Menschen, die unbewusst immer noch mit Vorurteilen auf betroffene Frauen blicken. Es soll wachrütteln, aufklären und vor allem Empathie wecken. Ebenso wichtig ist uns, dass dieses Buch Fachkräfte in Justiz, Polizei, Medizin, Bildung und sozialen Einrichtungen erreicht – Menschen, die beruflich mit Gewaltüberlebenden in Kontakt kommen und oft über Schutz oder Ohnmacht mitentscheiden.
F: Eine Frage, die wohl eher Bücher füllt als kurz beantwortet werden kann, aber: Was muss passieren, damit Gewalt an Frauen ernst genommen wird?
RS: Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht – aber ein Anfang liegt vielleicht darin, dass wir endlich aufhören, Gewalt an Frauen als Ausnahme oder Einzelfall zu betrachten. Sie ist kein Randphänomen, sondern tief in unseren gesellschaftlichen Strukturen verankert. Und genau dort muss Veränderung beginnen. Gewalt an Frauen wird dann ernst genommen, wenn wir nicht mehr Betroffene hinterfragen, sondern beginnen, die Umstände zu hinterfragen, die solche Gewalt ermöglichen. Wenn wir nicht mehr fragen „Warum ist sie geblieben?“, sondern: „Warum konnte er das tun – und warum konnte er damit durchkommen?“ Gewalt wird ernst genommen, wenn wir beginnen, sie als das zu erkennen, was sie ist: ein Ausdruck von Macht, Kontrolle und struktureller Ungleichheit.
„Das Projekt hat mir gezeigt, wie viel Kraft im Teilen liegt – und wie politisch das Persönliche ist“


F: Was braucht es als FotografIn, um ein Porträt zu machen, das die Person so einfängt, wie sie gesehen werden möchte?
PM: Für ein gutes Porträt braucht man das Vertrauen des Gegenübers. Vertrauen, durch die FotografIn nicht „verletzt“ zu werden, Vertrauen, dass etwas Besonderes dabei entsteht und damit die Offenheit zu erreichen, den „Panzer“ des sozial erwünschten Verhaltens abzulegen. In unseren Sessions war das ein ganz besonders wertvolles Gut und teilweise erst nach einigen gemeinsamen Bildern zu erreichen. Das hat es für Anna und mich auch so intensiv gemacht. Wir brauchten die Nähe, um die Bilder zu erstellen, die die Kraft, den Mut und auch den Stolz der Frauen zeigt, ohne dabei zu fordernd zu sein, den Frauen den Raum zu geben, sich fallen zu lassen und sich so zu zeigen, wie sie es wollen.
F: Was kann ein Porträt ausdrücken, was die Sprache nicht kann?
AS und PM: Ein gutes Portrait zeigt Emotionen, Stimmung und die Persönlichkeit eines Menschen auf eine Weise, die Worte oft nicht einfach beschreiben können. Ein Bild kann eine Geschichte erzählen, ohne dass viel erklärt werden muss und schafft so eine tiefere Verbindung zum Betrachter.
F: Wie haben die einzelnen Porträtierten und das Projekt an sich euch persönlich verändert?
AS und PM: Die Gewalt, die in den Geschichten steckt, hat uns schockiert und sehr traurig gemacht. Wir leben in einer „aufgeklärten Zeit“ und dennoch werden Konflikte in der Partnerschaft mit Gewalt, Terror und anderen noch brutaleren Mitteln ausgetragen. Und selbst wenn Kinder involviert sind, sind die „Erwachsenen“ nicht in der Lage zum Wohl der Kinder, sich wie Erwachsene zu verhalten, sondern geben ihre Gewaltspirale an die nächste Generation weiter. Wir hoffen, dass Bücher wie unseres dazu beitragen können, diese Spirale zu unterbrechen.
RS: Diese Frage lässt sich kaum in wenigen Sätzen beantworten, weil dieses Projekt mich auf so vielen Ebenen verändert hat – als Frau, als Betroffene, als Mitinitiatorin, aber vor allem als Mensch. Als wir begonnen haben, wusste ich, dass es emotional werden würde. Aber ich habe nicht geahnt, wie tief mich jede einzelne Geschichte berühren würde. Viele Erlebnisse der porträtierten Frauen ähneln meinen eigenen. Beim Zuhören war ich oft zurückgeworfen auf Erinnerungen, von denen ich dachte, sie seien längst verarbeitet. Und gleichzeitig war da ein neues Gefühl: Ich bin nicht allein. Wir sind viele.
Das Projekt hat mir gezeigt, wie viel Kraft im Teilen liegt – und wie politisch das Persönliche ist. Ich habe gelernt, dass Schweigen nicht nur ein individueller Schutzmechanismus ist, sondern auch ein gesellschaftlicher Auftrag: Solange wir schweigen, bleibt das System bestehen. Aber durch jede Begegnung, jedes Porträt, jedes Gespräch wurde etwas verschoben – in der Welt da draußen, aber auch in mir. Ich habe an Stärke gewonnen. An Klarheit. Und an Verantwortung mir selbst und anderen Betroffenen gegenüber.
Romy Stangl
Romy Stangl ist Menschenrechtsaktivistin und schreibt Kolumnen für das HeyDay Magazine – einem Online-Magazin für Frauen 40+, die mit beiden Beinen im Leben stehen, den Kopf in den Wolken behalten und sich vom Älterwerden nicht einschränken lassen. Das Magazin liefert Inspiration, Ideen und porträtiert Frauen, die das Beste aus allem machen, was das Leben bereithält. In ihren Texten schreibt sie über Mut, Gleichstellung, neue Narrative jenseits tradierter Rollenbilder und persönliches Empowerment. Als Co-Autorin ist sie an den Büchern Nachkommen – wenn Töchter ihren Müttern schreiben von Wiebke Dierks und Das habe ich noch nie gemacht – das wird gut von Dr. Claudia Richter (Link) beteiligt. Am 25.11.2025 erscheint (UN)ERHÖRT – Frauen reden über häusliche Gewalt, bei dem sie Mitherausgeberin ist – ein vielstimmiges Werk über das Schweigen, das gemeinsam Aktuell engagiert sie sich außerdem ehrenamtlich bei der Stiftung Gewaltfreie Kindheit und unterstützt die Kampagne Bavaria ruft – eine parteiübergreifende Initiative zur Förderung von Frauen in der Kommunalpolitik.
Anna Clara Schrenker
Anna Clara Schrenker, geboren 1999 in Bamberg, hat sich noch während der Schulzeit als Fotografin selbstständig gemacht. Ihre Wurzeln liegen in der Reportagefotografie – in der Beobachtung, im ehrlichen Erzählen, im Mut, auch unbequeme Wahrheiten zu zeigen. Sie hat früh gelernt hinzusehen, wenn andere wegschauen. Ihre Arbeit ist geprägt von einem tiefen Respekt für die Geschichte ihres Gegenübers – und dem Anspruch, nicht zu inszenieren, sondern Emotionen fühlbar zu machen.
Peter Müller
In der Eifel geboren, hat Peter schon mit 7 Jahren mit seinem Vater gemeinsam Fotos gemacht, selber entwickelt und in der eigenen Dunkelkammer vergrößert.
„Der Mensch vor meiner Kamera ist in dem Moment die wichtigste Person in meinem Leben….“ sagt Peter, wenn es darum geht, warum seine Porträts oft intensiver, dichter und persönlicher sind, als andere, die von dieser Person existieren. Diese komplette Konzentration auf den Menschen und Wertschätzung des Gegenüber, machen seinen Stil aus.
Bleiben wir bei starken Frauen: Autorin Ellen Atlanta hat mit uns über unerreichbare Schönheitsideale und ihr Buch „Pixel Flesh“ gesprochen.
(Un)erhört erscheint am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Vorbestellen kannst du es jetzt schon.