Sie fliegen nach Mallorca? Gratulation, dann reihen Sie sich hinter den fünf Millionen Deutschen ein, die jährlich die Insel stürmen. Vielleicht wäre das unserem Autoren Maximilian Reich auch mal ganz recht, doch stattdessen schicken wir ihn lieber an Orte, auf die kein Pauschaltourist seinen Fuss setzt. Diesen Monat: Ushuaia.
„Bist du dir sicher?“ „Absolut!“, sagt Lilli. Meine Freundin und ich stehen in einem Schuhgeschäft in der Münchner Innenstadt. Das heisst: Sie steht. Ich sitze vor ihr auf einer kleinen Bank und mustere skeptisch das Paar Sneakersöckchen an meinen blassen Füssen. „Ich brauche doch bloss neue Turnschuhe“, sage ich. „Dazu kannst du aber keine Tennissocken tragen. Das sieht unmöglich aus in kurzen Hosen.“ Ich habe lange, dünne Beine, die aussehen wie Spaghetti, auf die sich ein haariger Schimmelpilz gelegt hat. Ich könnte auch Flügel an den Füssen tragen wie Hermes der Götterbote und sähe trotzdem scheisse aus in kurzen Hosen. „Ich fühle mich wie ein Stripper“, sage ich und blicke auf meinen nackten Knöchel. Ich hab das Gefühl, jeder im Raum starrt auf meine entblössten Körperteile. Ich motze einen kleinen Jungen an, der an mir vorbeiläuft. „Ey, meine Augen sind hier oben!“ Lilli bläst sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Meine Güte, du weisst wirklich wie man dramatisiert. Kannst du sie jetzt bitte einfach nehmen, damit wir hier raus können?“ „Meinetwegen. Aber die Schuhe brauche ich eine Nummer grösser. Die…“ Neben mir auf der Bank vibriert mein Handy und unterbricht meinen Satz. Mein Chefredakteur ruft an. Ich schalte den Lautsprecher ein, damit ich die Hände frei habe, um die engen Schuhe wieder abzustreifen. „Max! Ushuaia – wie klingt das für dich?“ schallt die Stimme des Chefs durchs Schuhgeschäft. „Wie das Sushi, das ich gestern zum Abendessen hatte.“ Lilli verdreht die Augen. „Das ist ein Luxus-Hotel auf Ibiza“, flüstert sie mir zu. „In dem dazugehörigen Beach Club legen die besten DJs der Welt auf.“ „Sehr witzig“, sagt mein Chef. „Ich brauch dich da drei Tage für eine Geschichte.“ Neben mir steht Lilli und nickt mit dem Kopf wie ein Wackeldackel auf der Buckelpiste. „Nur wenn meine Freundin mit darf“, sage ich und reiche einem Verkäufer die zu kleinen Schuhe. „Von mir aus“, sagt mein Chef. „Den Flug muss sie aber selber zahlen.“ Ich blicke zu meiner Wackel-Freundin, die kurz vor einem Schleudertrauma steht. „In Ordnung. Schick mir einfach das Ticket und die Infos“, sage ich und lege auf. Der Verkäufer ist immer noch im Lager und sucht ein Paar in meiner Grösse, als auch schon die E-Mail mit dem Ticket eintrudelt. Entsetzt blicke ich auf mein Display. „Äh, Schatz? Der Flug geht nach Ushuaia in Argentinien.“ „Ach, DAS Ushuaia?!“ „Wie? DAS Ushuaia? Gibt’s etwa mehrere?“ „Naja, ein Dorf in Südamerika heisst wohl auch so. Gilt irgendwie als das Ende der Welt oder so.“ Ich starre sie mit offenem Mund an. „Und da müssen wir jetzt hin???“ Lilli kratzt sich am Kopf. „Ähm, mir fällt gerade ein, dass ich nächste Woche ja eine Präsentation für die Arbeit vorbereiten muss und gar keine Zeit habe. Echt blöd. Sorry.“ Als meine Ex-Freundin und ich das Schuhgeschäft verlassen, spüre ich einen Luftzug um meine Knöchel. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich habe heute mehrere falsche Entscheidungen getroffen.
Hitzekollaps kurz vorm Südpol
Ushuaia liegt 3’500 Kilometer vor der Antarktis, was ungefähr der Distanz zwischen London und Rom entspricht. Die Argentinier haben ihr den Spitznamen „südlichste Stadt der Welt“ gegeben, was allerdings etwas übertrieben ist. Puerto Williams in Chile liegt zum Beispiel nochmal 50 Kilometer darunter, allerdings leben dort nur 2’000 Menschen, und das sei daher keine Stadt, sondern ein Dorf. Wenn Südamerikaner wollen, können sie sehr pingelig sein. Um nach Ushuaia zu gelangen, kann man von Zürich aus mit Edelweiss Air nach Buenos Aires fliegen. Dort heben täglich die Flugzeuge ab, um Touristen in fünf Stunden ans Ende der Welt zu bringen. Als ich in die Maschine steige, habe ich eine lange Thermo-Unterhose an, die dicken Wollsocken übergestreift, die meine Oma immer während der Dialyse gestrickt hat, trage meinen alten Rollkragenpullover der Marke „70er Jahre Skilehrer“ und darüber eine dicke Winterjacke. Am Südpol ist es ja knackig kalt, hab ich gedacht. Hab ich mich aber geirrt, wie sich nun zeigt, als ich aus dem Flugzeug steige. Es hat ungefähr zwölf Grad, und der Schweiss tropft mir von der Nasenspitze. Kurz vorm Südpol stehe ich kurz vorm Hitze-Kollaps. Hätte ich mal lieber meine neuen Knöchelsöckchen angezogen.
Im Hotel an der Rezeption sitzt ein junger Mann auf einem Stuhl und begrüsst mich freundlich mit „Hola! Que tal?“
Spanisch klingt schon cooler als Deutsch, denke ich, als ich ihm meinen Reisepass über den Tresen zuschiebe. Deshalb sagt der Terminator im Film ja auch „Hasta la vista“ und nicht „Tschö mit ö.“ Englisch sprechen in Argentinien nur die wenigsten. Das macht es für Touristen ein bisschen schwieriger, ist aber durchaus verständlich. Schliesslich spricht der komplette Kontinent die gleiche Sprache. Wozu sich dann mit englischen Vokabeln quälen?
„Muy bien, gracias“, antworte ich – was so ziemlich der einzige Satz ist, den ich auf Spanisch beherrsche. Naja, den und „Soy una chica transexual“ weil ich mal in Barcelona war und Tinder ausprobiert habe, bevor ich mit Lilli zusammenkam.
Sentimental am Ende der Welt
Ushuaia liegt auf einem schmalen Streifen am Hang einer Bergkette, die sich rund um die Meeresbucht aufbäumt wie ein Türsteher vor einem pickeligen 16-Jährigen. So ähnlich sieht auch die Stadt aus: unattraktiv und unscheinbar. Einstöckige Häuser ohne irgendeine architektonische Besonderheit stehen in Blöcken angeordnet nebeneinander. Im 19. Jahrhundert war das Gebiet von Indianern besiedelt, ehe die Engländer hier 1869 einen Stützpunkt errichteten und 40 Jahre später damit anfingen, ihre Gefangenen hierher zu bringen. Sie bauten ein Gefängnis und eine Eisenbahn, und die Stadt fing langsam an zu wachsen. Heute leben hier knapp 60’000 Einheimische, von denen die meisten ein Restaurant betreiben oder Winterklamotten an die Touristen verkaufen. Dabei gibt es zwei Typen von Touristen, denen man auf den Strassen von Ushuaia über den Weg läuft: Zahnärzte, die sich in ihrer Freizeit als Hobby-Fotografen betätigen und die 5’000 Euro übrig haben für eine der Antarktis Kreuzfahrten, die hier ablegen – und arme Studenten, die sich mit einem Foto von Ushuaia auf Instagram von den Mainstream-Bali-Reisenden abheben wollen. Man findet sie überwiegend grinsend wie Honigkuchenpferde nach dem Koitus mit hochgestreckten Daumen am Hafen vor dem Holzschild, auf dem steht: „Ushuaia, Ende der Welt“. Der Hafen ist ohnehin der einzige schöne Platz in dieser Stadt. Hinter ihm im Halbkreis die massiven Gletscher mit ihren weissen Köpfen. Darüber der Himmel und vor einem bloss das Wasser, beides so blau und strahlend, als habe Gott betrunken beim Filter an der Sättigung herumgespielt. Und dahinter irgendwo der Südpol. Ich bin eigentlich kein sentimentaler Mensch. Das meiste, was ich bisher in meinem Leben gesehen habe, hat mich eher kalt gelassen. Die Wasserfälle von Iguazu: nichts anderes als Wasser, das von oben herunterplätschert. Hallo? Schon mal einen Wasserhahn aufgedreht? Polarlichter in Norwegen: Funkelnde Lichter im Dunkeln kann ich jeden Tag sehen, wenn ich fest die Augen zukneife. Das Baby meines besten Freundes: Mei, sieht halt aus wie jedes andere Baby, ne? Aber die Vorstellung, dass die Erde hier irgendwie aufhört und ich nach all meinen Reisen nun in gewisser Weise an der Endstation angelangt bin, bewegt mich so tief, dass ich mich auf eine Parkbank setze, um den Moment zu geniessen.
Journalistentreffen
Andererseits ist es halt auch nur ein Hafen. Also setze ich meinen Spaziergang nach fünf Minuten fort. Ich hole mir beim Stand eines Tour-Anbieters Informationen über den südlichsten Nationalpark der Welt, laufe vorbei am südlichsten Hard-Rock-Café der Welt und lerne im örtlichen Museum mehr über die südlichste Eisenbahn der Welt. Das muss man den Argentiniern schon lassen, sie wissen wie man ein Alleinstellungsmerkmal vermarktet. Am Abend bei einem Bier in einem Pub, der selbstverständlich der südlichste Pub der Welt ist, treffe ich einen Reisejournalisten aus Rom, der ebenfalls hier ist, um einen Artikel über Ushuaia zu schreiben. Er hat zotteliges Haar, das bestimmt noch nie einen Kamm gesehen hat, und trägt eine Daunenweste über dem schwarzen Pullover. Morgen hat er ein Interview mit dem Bürgermeister.
„Ich möchte mit ihm über den wirtschaftlichen Aufschwung der Region sprechen“, sagt er.
„Aha“, sage ich.
„Und was recherchierst du für deine Ushuaia-Geschichte?“
„Ich geh morgen Seelöwen angucken“, sage ich.
„Ah, du schreibst über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gegend und hängst es an den heimischen Seelöwen auf?“
„Hä? Ne, ich mag einfach Seelöwen. Man kann für 20 Franken so eine Bootstour mitmachen und fährt rüber zu einer Insel vor der Küste, wo die alle leben.“
„Verstehe“, sagt der Reisejournalist und nimmt einen Schluck Bier. „Ich hatte mich heute Früh mit einem der Touren-Anbieter unterhalten. Die bieten auch Ausflüge zur Isla Martillo an, wo man Magellan-Pinguine beobachten kann. Interessanterweise aber nur im Sommer. Wer hätte gedacht, dass Pinguine Sommer-Tiere sind. Dachte zuerst, der will mich verscheissern.“
Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab hier mit niemandem geredet.“
„Ne?“
„Ne…“
„Was hast du den ganzen Tag gemacht? Du musst doch über irgendwas schreiben…“
„Ich hab vorhin im Hotel die Klospülung beobachtet, ob das Wasser hier am Ende der Welt andersherum abfliesst.“
Der Reisejournalist guckt mich fassungslos an, als hätte ich einen brennenden Kuhfladen vor die Tür des Buckingham Palastes gelegt. „Und?“, fragt er schliesslich.
Ich nehme einen Schluck Bier. „Weiss nicht. Hab vergessen, in welche Richtung es zuhause abläuft.“
Der Reisejournalist kratzt sich den Bart. „Für wen schreibst du gleich nochmal?“
„FACES.“
„Und die geben dir kein konkretes Thema, über das du vor Ort recherchieren sollst?“
„Nö. Die Redaktion überlegt sich einfach, wo ich es so richtig kacke finden könnte – und dann schicken sie mich dorthin.“
„Eigenartig“, murmelt der Reisejournalist und leert sein Bier.
Muy importante
Nach unserem Gespräch plagt mich das Gewissen. Vielleicht sollte ich doch ein bisschen mehr Recherche betreiben für meinen Text, denke ich und fahre am nächsten Morgen mit dem Bus in den nahegelegenen Nationalpark Tierra del Fuego. Nach einer halben Stunde stoppt der Bus auf einem Parkplatz vor dem Eingang des Nationalparks. Der Busfahrer stellt sich in die Mitte des Ganges und sagt etwas auf Spanisch. Seine Ansprache dauert etwa fünf Minuten und beinhaltet mehrmals die Worte „muy importante“, was er mit sehr viel Nachdruck sagt. „Muy importante.“ Als er mit seiner Rede fertig ist, hebe ich die Hand. „Entschuldigung, könnten Sie es für mich auf Englisch wiederholen?“ Der Busfahrer kommt zu mir nach hinten und sagt: „Wir jetzt da. Treffen uns um 15 Uhr wieder hier.“ Mehr sagt er nicht. Dann nickt er einmal und geht wieder nach vorne. Ich werde das Gefühl nicht los, er hat bei seiner Übersetzung ein paar Dinge ausgelassen. Der Spaziergang durch den Nationalpark unterscheidet sich ehrlich gesagt nicht sehr stark von den Wanderungen früher mit meinem Vater durch Oberstdorf. Schmale Trampelpfade führen die Touristen durch einen Wald und über ein Feld an mehreren kleinen Seen vorbei. Aus Angst mich zu verlaufen und womöglich den Bus zu verpassen, hänge ich mich an ein amerikanisches Rentner-Ehepaar. Rentner sind wahre Profis im Wandern, weil sie im Leben nichts anderes mehr zu tun haben. Die Laufen so weit sie die künstliche Hüfte trägt. Die verlaufen sich nie. Ausser vielleicht die debile 90-Jährige damals in meiner Zeit als Zivi. Sie trug nur einen BH und hatte auf dem Kopf eine Unterhose, als sie durch den angrenzenden Park irrte und ihren verstorbenen Harald suchte. Ich hoffe jetzt einfach mal, dass diese Senioren noch bei Verstand sind. Nach einer Weile bleiben die beiden plötzlich stehen. Der Mann stützt sich auf seinen Wanderstock und stöhnt: „Meine Füsse bringen mich um.“
„Ich hab dir gesagt, du sollst die Schuhe vorher einlaufen, Bill.“
„Daran liegt es nicht, Nancy. Der Schuh reibt an meinem Knöchel.“
Der Herr setzt sich auf einen Stein und zieht seinen Schuh aus. Beim Vorbeigehen stelle ich trocken fest: Bill trägt Sneakersöckchen.