Erst bemitleidet. Dann belächelt. Doch schließlich: Bewundert. Kleidung ist unsere persönliche Geschichte, die wir ohne Worte erzählen. Und keine Geschichte in der Modewelt birgt so viel Tragik und Triumph wie die von Donatella Versace. Jetzt beginnt für den Final Boss der Extravaganz ein neues Kapitel – und für Versace die Zeit nach Versace.

Wir stehen alle in ihrer Schuld. Zumindest jene von uns, die in den vergangenen 25 Jahren im Internet nach Bildern wie „Ryan Gosling hot“, „beach sunset“ oder „Arschgeweih Inspiration“ gesucht haben. (Einige Suchanfragen sind besser gealtert als andere.) Denn es ist Donatella Versace zu verdanken, dass Google im Juni 2001 seine Image Search Funktion lancierte. Einige Monate zuvor besuchte Jennifer Lopez an der Seite ihres damaligen Boyfriends Sean „P. Diddy“ Combs (einige Ex-Beziehungen sind besser gealtert als andere) die Grammy Awards in einem Versace-Outfit. Ein Auftritt mit einer Wirkung, als hätte die Menschheit zum ersten Mal das Sonnenlicht erblickt. Das ozeangrüne Chiffonkleid – ausgeschnitten bis zum Bauchnabel – war eine Sensation, ein Weltwunder, ein kosmisches Ereignis. Doch wer das Modem hochfeuerte, um mit eigenen Augen La Lopez in The Dress zu sehen, bekam nur textbasierte Suchresultate präsentiert. Das Tech-Unternehmen, überwältigt von der Nachfrage, machte sich kurz darauf an die Entwicklung eines neuen Features, das gezielt nach Bildern stöberte.


Veni, vidi, Versace
Wäre es auch soweit gekommen, hätte Donatella Versace nicht jenen ikonischen Dress entworfen und J.Lo auf den Leib geschneidert? Ziemlich sicher. Ist Google froh, der eigenen Firmengeschichte mit dieser Anekdote etwas Glamour zu verleihen? Definitiv. Für Donatella markierte diese Episode den künstlerischen Durchbruch seit ihrer Übernahme von Versace drei Jahre zuvor. Ein erster Versuch, aus dem Schatten ihres Bruders und dem Schmerz seines Verlustes zu treten. Doch bevor ihr dieser Schritt endgültig gelang, gerieten die obligaten High Heels der Italienerin noch öfter ins Wanken.
Ein halbes Jahrhundert waren Gianni und Donatella Versace unzertrennlich. Der ältere Bruder erbte das Talent für Schneiderei von Mutter Francesca und brannte mit der Ambition, aus dem Handwerk eine Kunst zu machen. Seine Lieblingssängerin in jungen Jahren war Patty Pravo, eine wasserstoffblonde Diva mit dem Welthit „La bambola“. Und genau wie eine bambola, eine Puppe, kleidete Gianni seine kleine Schwester an, färbte ihr im Alter von elf Jahren die Haare im selben Buttergelb von Pravo. Zeitlebens blieb Donatella eine Leinwand für die Visionen des Designers. Eine Leinwand aber, die den Künstler lautstark wissen lässt, wenn seine Pinselstriche nichts taugen und danach selbst die Richtung vorgibt.
1978 eröffnete Gianni Versace seine erste Boutique in Mailand, Donatella wurde als Vizepräsidentin seine linke und rechte Hand – solange sie weder Schere noch Nadel halten musste. In den folgenden 20 Jahren wurde Versace zum Inbegriff des modischen Maximalismus. Kleidung so dramatisch, dass man in ihr mit Tellern nach der Affäre schmeißen und sich danach für die Versöhnung vom Körper reißen will. Die USA eroberten Versace, wie einst die Römische Armee ihr Imperium aus dem Boden stampfte. Doch statt Legionäre führten Naomi Campbell, Cindy Crawford, Linda Evangelista und Christy Turlington den Triumphzug an – The Big Four, die dank Versace von den Titelseiten der Modemagazine gepflückt wurden und 1991 zum ersten Mal über den Laufsteg schritten. So machte die Marke Models zu Supermodels. Und Popstars zu Fans: 1994 posierte Madonna für eine Fotokampagne der Frühling/Herbst-Kollektion in Mar-a-Lago. (Einige Locations sind besser gealtert als andere.)


In dubio, Donatella
Drei Jahre später wurde Gianni Versace vor seinem Zuhause in Miami von einem Mann erschossen, der hoffte, damit berühmt zu werden. Donatella trat die schwere Nachfolge an. Die Modewelt, sonst ein Haifischbecken, wurde durch den Schicksalsschlag ein Koiteich und begegnete der neuen Chefin mit allem guten Willen der Welt. Doch die ersten Kollektionen unter der Regie von Donatella überzeugten kaum. Schon bald karikierten Medien die Modeschöpferin zu einer wandelnden Tragikomödie, die von Champagner, Zigaretten und Schönheits-OPs zusammengehalten wurde. Am 18. Geburtstag ihrer Tochter Allegra – der Gianni testamentarisch die Mehrheit des Versace-Unternehmens vermacht hatte – packte Elton John persönlich Donatella ins Flugzeug und schickte sie wegen ihrer Kokainabhängigkeit in die Entzugsklinik.
In den folgenden Jahren fand Donatella nicht nur ihren Weg aus der Drogensucht, sondern auch eine erfolgreiche Richtung für die Marke Versace. Hatte Gianni für seine Designs stets den Kopf in den Wolken, brachte seine Schwester mit ihren Entwürfen die Kleidung zurück auf den Boden – ohne dabei auf die Opulenz zu verzichten. Als Frau versteht sie die Bedürfnisse ihrer Kundinnen und machte Versace nicht bloß zu einem kreativen Schaulaufen, sondern zum tragbaren Chic in allen Lebenslagen. Persönliche Angriffe der Öffentlichkeit kontert Donatella inzwischen nicht mehr mit einer Nase voll weißem Selbstvertrauen, sondern unverwüstlicher Selbstironie und einer nonchalanten Lässigkeit.
Man werde sie einst nicht an den Füßen aus den Versace-Büros zerren müssen, verriet Donatella vor einigen Jahren im Interview. Ihren Abgang macht sie erhobenen Hauptes als eine Ikone der Industrie und Popkultur, vergleichbar mit Karl Lagerfeld oder Vivienne Westwood. Als neue Aufgabe repräsentiert die 69-Jährige Versace als Chief Brand Ambassador. Im Haus, das einst ihr Bruder und sie gebaut haben, bleibt Donatella somit die glamouröse Gastgeberin und auch in Zukunft eine Stimme, die Gewicht hat. Einige Erfolgsgeschichten altern besser als andere. Die von Donatella Versace ist eine für die Ewigkeit.
Addio, Donatella
Gemessen an der Länge ihrer High Heels hinterlässt niemand größere Fußstapfen: Im März gab das Modehaus Versace bekannt, dass Donatella Versace nach 28 Jahren ihre Aufgabe als Creative Director abgibt. Nachfolger ist Dario Vitale, der zuletzt die Kassen bei Miu Miu hat schnurren lassen. Donatella bleibt ihrem Unternehmen als Chief Brand Ambassador verbunden. Ist mit diesem Wechsel auch der Verkauf von Versace an Prada perfekt? Entsprechende Gerüchte kochten in den vergangenen Wochen so heiß und geduldig wie ein Topf voll Sugo. Wir sind gespannt, was uns serviert wird – sowohl vom Verhandlungstisch als auch auf dem Laufsteg.
Andere Branche, ebenso blond, ebenso legendär: Lies hier unser Porträt von Pamela Anderson.
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