Stillsitzen ist nichts für Yael Anders. Weshalb sollte sie auch, wenn der Zürcher Designerin so viele Ideen im Kopf rumschwirren, die sie von Projekt zu Projekt tragen wie Lianen Tarzan durch den Dschungel. Anders hat in Schweden, Paris und Berlin gelebt, spricht sechs Sprachen, arbeitet mit Keramik, Papier, Textilien oder Holz und versprüht so viel Energie, dass wir uns im Corona-Lockdown noch so gerne ein paar Joule davon abzwacken.
FACES: Wie bist du dort hingekommen, wo du heute bist?
Yael Anders: Das Essentielle im Leben ist für mich, wie im Design, der Prozess. Während meines Studiums an der Zürcher Hochschule der Künste und an der ENSAAMA in Paris habe ich mein KreativStudio in Zürich aufgebaut und etabliert. Ausgehend von meiner illustrativen Arbeit entwickelte ich eine kleine, laufend wachsende Kollektion an Gegenständen. Zusätzlich entwickle ich verschiedene kulturelle Projekte, unter anderem für die Stadt Zürich und gestalte diverse Medien für Projekte und Unternehmen. Momentan habe ich viel Glück, alles ergibt sich und fällt mir leicht. Oft fühlt sich mein Beruf gar nicht wie Arbeit an. Ich lebe einfach, und irgendwie entstehen daraus Projekte. (lacht)
F: Eines deiner Projekte ist eine eigene Agenda. Woher kam die Idee dazu?
YA: Im musischen Gymnasium in Zürich hatten die vorlinierten Agenden für mich zu wenig Freiraum. Ich wollte eine Agenda mit viel Platz für eigene Strukturen und gestaltete deshalb meine erste Edition. Das war ca. 2012, und die Auflage war damals dementsprechend etwa so gross wie meine Schulklasse. Die Editionen wurden jährlich etwas professioneller, da ich durch mein Studium an der ZHdK neues Know-How in das Projekt leiten konnte. Seither sind die Auflagen auch etwas gestiegen, sodass heute mehrere hundert Personen mit meiner Agenda durch das Jahr leben. Für mich ein sehr schöner Gedanke.
F: Du fotografierst, arbeitest mit Keramik, kennst dich mit Textilien, Holz und Metall aus, erstellst Illustrationen und Layouts. Ein unglaublich breites Feld an Techniken und Skills, die dir zur Verfügung stehen. Wie bezeichnest du da dein Schaffen und deinen Beruf?
YA: Ich interessiere mich für Haptik, Materialeigenschaften und das Analoge; handwerkliche Techniken, die teilweise aus uralten Traditionen entstanden sind. Es scheint von aussen schwerig zu sein, die verschiedenen Tätigkeiten in ein einheitliches Feld einzupassen. Dabei denke ich, dass genau dieses interdisziplinäre Arbeiten für mich das Spannende ist. Um es simpel und klar zu halten, antworte ich auf die Einstiegsfrage meist mit „Designerin“. Der Designbegriff enthält für mich den Prozess von Entwurf über Planung bis hin zu einer spezifischen Form von Visualisierung. Es gibt auch Eigenschaften des Designbegriffs, die mir nicht ganz entsprechen. Design beinhaltet oft sehr kommerziell orientierte Ausrichtung und Produktorientiertheit, die je nach Kontext problematisch sein kann. Aber für den Moment bleibe ich beim Titel Designerin – und wer weiss, vielleicht wird sich dies ja schon sehr bald ändern?
F: Welche Erfahrung ist die wichtigste und welche Erkenntnis die wertvollste?
YA: Nach siebenundreissig Nachtschichten nach meiner ersten Keramikkollektion, die durch einen Zeitungsartikel zu viele Bestellungen auslöste, merkte ich, dass „hustlen“ einfach nicht „the way to go“ ist. Ich realisierte, dass durch gute Planung und ruhiges Handeln nachhaltig gesehen viel Besseres entsteht, statt in Nachtschichten Keramiken zu formen, von denen die Hälfte qualitativ nicht gut rauskommt. Das schont meine Energie, meine Motivation, Material und mein Umfeld. Die wichtigste Erkenntnis ist für mich, dass der Tag nicht so viele Stunden hat wie ich Ideen, und dass der Prozess für mich das Ziel ist.
F: Was ist das Schwierigste an der Selbständigkeit?
YA: Das Schwierigste ist das Schönste zugleich: die Freiheit. Sich selbst einen Rahmen zu setzten und den eigenen Alltag selbstbestimmt planen zu können, ist eine enorme Ermächtigung für mich, die mich gleichzeitig auch fordert, was ich mag. Ansonsten bin ich jährlich enorm überfordert mit meiner Steuererklärung, ein Schweizer Administrationsaufwand, den wir sehr gerne abschaffen könnten.
F: Ist es mit Social Media, YouTube und Co. heute einfacher, sich selbständig zu machen?
YA: Die Tools sind neu und haben sich mit der Digitalisierung stark geändert. Doch wie überall muss mit den Tools umgegangen werden können. Personen, die sich selbständig machen wollen, stehen heute vor neuen Möglichkeiten, die zugleich neue Herausforderungen darstellen. Social Media ist heute so relevant, dass es für viele auch eine masslose Überforderung darstellt, neben der spezifischen Tätigkeit, auch noch im Social-Media-Bereich spezialisiert zu sein. Zusätzlich befinden sich auch unsere Arbeitsnormen im Wandel. Vollzeitstellen gelten vermehrt als veraltet, und neue Kombinationsmodelle zwischen Selbständigkeit und Teilzeitjob etablieren sich.
F: Was hältst du von Instagram?
YA: Instagram ist für mich zu einem wichtigen Tool geworden und erfüllt eine Form von „Mittel zum Zweck.“ Einerseits beinhaltet die Plattform eine gewisse Form von Chancengleichheit, in der sich alle, die Zugang zum Internet haben, äussern können und die Möglichkeit haben, die Plattform für Projekte und Inhalte zu nutzen. Auch ist Instagram für die Vernetzung und den Austausch von politischen und anderen Formationen wichtig. Mir als junge Designerin hat Instagram sehr viele spannende Verknüpfungen und Projekte ermöglicht, und ein Grossteil meiner Aufträge und Bestellungen läuft über diese Plattform. Andererseits ist der negative Einfluss von Instagram auf die psychische Gesundheit von jungen Personen beispiellos. Und es ist es ein Problem, dass alle Sozialen Medien wenigen Konzernen angehören, die dadurch unglaublich viel Macht haben. Sie bestimmen die Rahmenbedingunen und ihre Algorithmen die Regeln, zu denen wir spielen. Ich frage mich: Wo bleiben die Alternativen? Das Internet hätte zu Anfgangszeiten das Potential gehabt, kollektiver oder diverser genutzt zu werden. Wenn es eine anders organisierte App mit denselben Funktionen gäbe – ich würde sofort umsteigen.
„Der Tag hat nicht so viele Stunden wie ich Ideen.“
F: Wovon lässt du dich inspirieren, und was tust du, wenn dich die Muse gerade nicht küsst?
YA: Meine Agenda dient als Sammlung und mobiles Moodboard, das ich immer dabei habe. Oft skizziere ich grob Formen oder Ideen, wenn mir im Alltag etwas Interessantes begegnet. Ausserdem wohne ich in einer grossen WG mit Personen aus verschiedensten Bereichen. Von Film über Chemie und Architektur… Meine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner ermöglichen mir verschiedene Perspektiven zu einzelnen Projekten, welche diese interdisziplinär erweitern können.
F: Wie hat Corona deinen Arbeitsalltag und dein Denken über deine Arbeit beeinflusst?
YA: Corona hat mich im Fokus auf Digitalität und auch auf digitale Plattformen bestätigt, und es hat sich gezeigt, dass ein Fokus in diesen Bereichen sinnvoll ist. Ich bin mir bewusst, dass ich aus einer, in vielen Hinsichten, sehr privilegierten Perspektive spreche. In der Corona-Krise habe ich das noch verstärkter wahrgenommen, und ich habe auf mir mögliche Wege versucht, anderen zu helfen.
F: Wie pflegst du dein Netzwerk in Zeiten von Corona?
YA: Wie vor Corona läuft ein wichtiger Teil digital. Mein persönliches Netzwerk hat sich jedoch minimiert auf eine kleine, aber feine Essenz. Ich wohne in der Zürcher Altstadt in einem grossen, alten Haus mit Garten und dreizehn Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern.
F: Mit welchem Vorurteil siehst du dich häufig konfrontiert, und wie konterst du?
YA: Ich versuche, selbst möglichst nicht in Vorurteilen zu denken, und so fühle ich mich auch nicht stark mit Vorurteilen anderer konfrontiert. Häufig werde ich als „Influencerin“ betitelt, weil ich Social Media schon früh als Plattform genutzt habe, was ich aber mit Humor nehmen kann. Zudem bin ich inzwischen sehr froh, dass ich mir die Grundlagen an Social-Media-Skills angeeignet habe und kann bei allen Anfragen, Projekten und Vernetzungen, die dadurch entstehen, diese nicht ganz ernst gemeinte Betitlung in Kauf nehmen.
F: Was hat Zürich, was andere Städte nicht haben, und über welche Eigenheiten der Stadt kannst du dich stundenlang aufregen?
YA: Zürich ist eine Wasserstadt, und das liebe ich an ihr. Im Sommer baden wir dauernd, auch weil es dazu so viele Möglichkeiten gibt – und natürlich auch, weil ich mir die Zeit dazu selbst einteilen kann. Wenn ich an Zürich denke, denke ich an sternenklare Nächte auf der Dachterrasse meiner WG und das Aufgehen der Sonne hinter den Alpen über dem See. An Menschen, die in den Strassen herumeilen und ihren Geschäften nacheilen. Und die unglablich schlecht geplanten Velowege… Leider hat es Zürich verpasst, sich zu einer Fahrradstadt zu etablieren. Aber am Abend, wenn die Sonne über der Limmat untergeht und ich am Ufer des Flusses einen Apéro trinke, sind auch diese Sorgen verschwunden.
F: Wo hältst du dich in Zürich am liebsten auf, und welches sind deine Lieblingsplätze?
YA: Die Badi-Kultur dieser Stadt ist einmalig. Die Frauenbadi schafft wichtige Räume und ist für mich eine der schönsten Oasen der Stadt. Auch der Letten mit allen Bars und Cafés ist für mich ein wichtiger Ort. Ansonsten mag ich die Altstadt mit den Museen; das Kunsthaus und das Helmhaus sind wenige Schritte von meinem Zuhause entfernt. Der Kreis fünf ist spannend, um kleine Geschäfte zu entdecken oder eine Galerie-Tour zu unternehmen. Im Toni Areal bin ich regelmässig, um in Vorlesungen zu sitzen oder mir im Museum für Gestaltung eine Ausstellung anzusehen. Mein Atelier am Limmatplatz ist für mich natürlich wie ein zweites Zuhause. Wenn ich nicht gerade dort bin, bin ich gegenüber des Flusses im Dynamo oder sonst irgendwo mit dem Fahrrad unterwegs.
F: Wie beschreibst du Zürich?
YA: Zürich ist kalt, aber schön.
F: Wie, wo und bei wem kaufst du selber ein?
YA: Seit mehreren Jahren versuche ich ausschliesslich secondhand einzukaufen. Mit allen Flohmärkten und Brokis in der Stadt Zürich ist das nicht so schwer. Da momentan alle Shops geschlossen sind, landen vermehrt „Depop“-Pakete bei uns im Briefkasten. Ansonsten liebe ich Kari-Kari, Schön & Recht, Sphères, Opia oder den Landesmueum-Shop in Zürich – natürlich auch, weil da Dinge von mir ausgestellt sind. (lacht)
F: Worauf sparst du?
YA: Ich möchte mit meinen Cousinen und Freunden kollektiv ein altes Haus umbauen. Unsere Grossmutter träumte immer von einem Haus auf dem Land und konnte durch Zufall ein grosses Haus nicht all zu weit weg von Zürich kaufen, das inzwischen aber renoviert werden sollte. Wir sind sieben Cousinen und haben viele Ideen und Pläne mit dem Haus – Workshops und Weekend-Retreats bis hin zu grossen Festen, die wir dort feiern möchten.
F: Dein absolutes Lieblingsteil, das du besitzt?
YA: Mein Fahrrad. Nach all den Jahren mit Flohmarkt-Rädern, die mir regelmässig geklaut wurden und die halbe Zeit in der Reparatur standen, habe ich mir ein vor ein paar Jahren ein solides Fahrrad geleistet. Eine Freundin hat mich kürzlich beim Aufsteigen beobachtet und meinte: „Von den Bewegungen her wirkt es, als wärst du eins mit deinem Fahrrad.“
F: Worauf bist du besonders stolz?
YA: Auf meinen Studio-Umbau.
F: Was kannst du gar nicht?
YA: Einfach nichts tun.
F: Sind Trends noch zeitgemäss?
YA: Die Frage ist, waren sie jemals zeitgemäss? Oder sind Phänomene, sobald sie als Trend analysiert werden und von Makrotrends zu Megatrends wurden, schon wieder Vergangenheit? Im Kontrast zu früheren Zeiten existieren heute mehrere Trends parallel. Die Verteilung und Kommunikation von Trends hat sich durch die globalisierte und digitalisierte Welt stark verändert, und ein „neuer“ Trend ist innerhalb von Minuten überall da, wo es Internet und Smartphones gibt.
F: Der Soundtrack deines Lebens?
YA: „The Youth“ von MGMT. Ich glaube, auch mit 90 würde ich mich damit noch in meine Jahre als Teenager versetzt fühlen.
F: Welche Person möchtest du unbedingt einmal treffen?
YA: Ich würde die Künstlerin Pipilotti Rist gerne mal treffen. Ihre feministische Kunst war für mich als junge Frau prägend und beeindruckend.
F: Was war das Wildeste, das du je selbst getan hast?
YA: Relativ spontan habe ich mit einem Schlaghammer die Wand in meinem zweiräumigen Atelier eingeschlagen. Das sieht zwar nach viel Spass aus, ist aber enorm
anstrengend! Über 986 Kilo Material musste ich danach von Hand aus dem Studio tragen, aber dafür habe ich jetzt mehr Raum für Neues, gedanklich und physisch. Kim
Pham und ich möchten das Studio vermehrt für andere Dinge öffnen – Workshops oder Happenings.
F: Welche Tageszeit ist die beste und wieso?
YA: Der frühe Morgen und die tiefe Nacht. Ich starte meinen Tag mit Kaffee und Zeitung im Bett, wobei die Uhrzeit je nach Tag variiert. Ich mag den Morgen, wenn der
Tag neu beginnt und mir das Gefühl gibt, alles sei möglich.
F: Von welchem Abenteuer träumst du?
YA: Ich träume von mehr Chancengleicheit und mehr Zeit und Raum für Experimente. Ich glaube das wäre für alle ein Abenteuer.
Yael Anders: Die aktuellen Projekte
Das Agenda-Projekt: Durch das Medium wiederholt sich das jährlich und definiert auch meinen ursprünglichen Zugang zur Gestaltung.
Das Collectif-mon-amour-Projekt: Zusammen mit Collectif Mon Amour habe ich ein illustratives Pattern-Design entwickelt, welches ab März bei Modissa an der Zürcher Bahnhofstrasse als Teil ihrer aktuellen Kollektion zu sehen ist. Zusätzlich werde ich verschiedene in Zürich handgemachte Keramikobjekte ausstellen, für die ich gerade mit verschiedensten Formen und Farben experimentiere.
Das Recycle-Upcycle-Projekt: Dieses interkulturelle Recycle-Upcycle-Projekt konnte ich gemeinsam mit Service Civil International und dem Dynamo der Stadt Zürich schon mehrmals umsetzen. Wähend zwei Wochen wohnten Personen aus verschiedensten Ländern in Zürich, die sich gemeinsam zu Re- und Upcycling-Techniken austauschen. So entstehen diverse Experimente und Produkte aus nicht mehr genutzten Materialien, die im Anschluss im Fair-Fashion- und Eco-Design-Store Rrrevolve in Zürich verkauft werden. Die Einnahmen davon gehen an die Non-Profit-Organisation Service Civil International.