Wenn etwas so ungerecht ist, dass man keine Worte dafür findet, kommt Katja Berlin mit einem Tortendiagramm zur Rettung. Mit ihren Grafiken fasst sie seit Jahren kurz, knapp und mit einer großzügigen Portion Humor zusammen, was in unserer Welt so alles schief läuft. Wo der deutsche Humor sich noch verbessern könnte, warum ihr die Ideen für Tortendiagramme noch lange nicht ausgehen und ob sie im aktuellen politischen Klima noch Hoffnung verspürt, verrät sie im Interview.
FACES: Seit 2015 triffst du wöchentlich mit einem Tortendiagramm ins Schwarze. Wie viele Torten hast du noch auf Lager? Wie kommt es, dass dir nie die Ideen auszugehen scheinen?
Katja Berlin: Ich wünschte, mir würden mal die Anlässe für die Torten ausgehen. Aber sobald ich denke, jetzt habe ich alles gesagt, kommt wieder eine neue Krise, eine neue Quatschdebatte oder eine neue Forderung von Wolfgang Kubicki um die Ecke und damit auch wieder jede Menge Ideen.
FACES: Gibt es eine Ungerechtigkeit oder einen spezifischen Moment, der dich „radikalisiert“ hat? Oder dich zumindest angetrieben hat, Missstände in unterhaltsamen Diagrammen festzuhalten?
Katja Berlin: Ich bin mit weniger festen Genderrollen erzogen worden als viele andere in Deutschland und habe deshalb schneller Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern bemerkt. Für mich war es zum Beispiel nicht natürlich, dass nur die Frauen nach einem gemeinsamen Abendessen in der Küche stehen und den Abwasch machen. Und als ich dann in meinen Zwanzigern auf Social Media aktiv wurde, war ich überrascht darüber, wie viel Frauenhass es dort gibt. Beides hat mich tatsächlich radikalisiert, aber meine Waffe ist der Humor.
„Humor hat eine Entlastungsfunktion, er reduziert Stress und entspannt.“
FACES: Sind deine Torten eine Art „coping mechanism“, um mit der Schwere der Welt klarzukommen?
Katja Berlin: Ja, absolut. Humor hat eine Entlastungsfunktion, er reduziert Stress und entspannt. Also alles, was wir in diesen Zeiten brauchen.
FACES: Gibt es eine Torte der Wahrheit, die du rückblickend bereust?
Katja Berlin: Nein, es gibt natürlich welche, die ich weniger gelungen finde, aber ich bereue keine.
FACES: Bringst du dich mit deinen Diagrammen manchmal selbst zum Lachen?
Katja Berlin: Ja, ab und zu. Bisschen peinlich, aber das sind meine Lieblingsmomente bei der Arbeit.
FACES: Denkst du mittlerweile in Tortendiagrammen? Oderist es ein komplexer Weg von der Idee bis zum fertigen Diagramm?
Katja Berlin: Die Grafiken sind tatsächlich Ergebnisse von längeren Denkprozessen. Die Ideen kommen nicht einfach so, wenn ich im Supermarkt gerade an der Kasse stehe.
FACES: Ist deine Arbeit einfacher oder schwieriger geworden?
Katja Berlin: Beides. Sie ist einfacher geworden, weil auch Handwerk und Erfahrung zu einem guten Witz führen können und schwieriger, weil ich schon so viele Witze gemacht habe. Da muss ich jetzt schon immer überlegen, ob ich die Pointe nicht schon mal gebracht habe.
FACES: Worüber würdest du gerne einmal mehr schreiben als Platz hat in einem Diagramm?
Katja Berlin: Schreiben eher nicht, aber alles, was ich über die
Tortendiagramme hinaus denke, erzähle ich gerne auf Bühnen. Nächstes Jahr werde ich voraussichtlich eine kleine Deutschlandtour machen, eventuell komme ich sogar in die Schweiz.
FACES: Über welche weniger ernsten Themen würdest du gerne ein Tortendiagrammbuch (Im Stil von „Was wir tun, wenn der Aufzug nicht kommt“) veröffentlichen und warum?
Katja Berlin: Ich finde ja, dass Dating und Beziehungen ein riesiges Humorpotenzial haben, insbesondere für feministischen Humor. Aber einen ehrlichen Reiseführer in Grafiken könnte ich mir auch vorstellen.
„So ganz ohne Hoffnung könnte ich meinen Job wohl an den Nagel hängen.“
FACES: Deine Tortendiagramme eignen sich wunderbar zum Teilen auf Instagram und Co. Wie oft bist du in den sozialen Medien unterwegs?
Katja Berlin: Häufig, aber längst nicht mehr so häufig wie früher. Ich nutze Social Media viel zum Recherchieren, aber Freude macht mir das kaum noch. Früher habe ich viel mehr lustigen Content gepostet, jetzt nutze ich dafür fast nur noch Instagramstorys. Meine alte Netzheimat Twitter gibt es ja nicht mehr.
FACES: Liest du Hasskommentare im Netz?
Katja Berlin: Nein, selbst die interessieren mich nicht mehr. Ich mache das mittlerweile schon viele Jahre und der Hass, der jetzt kommt, ist häufig von irgendwelchen russischen Bots oder von Typen, die nicht mal mehr kreativ beleidigen können. Die kann man getrost ignorieren.
FACES: Wann hast du das letzte Mal im Internet eine Behauptung gelesen und dachtest sofort: „Bullshit.“?
Katja Berlin: Vor drei Millisekunden.
FACES: Wenn du den Stecker für sämtliche Social Media Plattformen ziehen könntest, würdest du es tun?
Katja Berlin: Hielte man mir einen Knopf unter die Nase, mit dem man alle Plattformen für drei Jahre ausstellen könnte, käme ich ins Grübeln. Aber den gibt’s ja zum Glück nicht und ich möchte darüber auch nicht alleine entscheiden. Ich bin ja keine Autokratin.
FACES: Bei deiner Recherche für dein neuestes Buch bist du bestimmt auf einige großartige Ungereimtheiten der AfD gestoßen. Was hat dich am meisten schockiert und/oder amüsiert?
Katja Berlin: Mit am lustigsten finde ich, dass sie so gerne das Maul aufreißen und die anderen „jagen wollen“, dann aber nur am Rumjammern sind, dass die demokratischen Parteien angeblich so fies zu ihnen sind.
FACES: Wie hat sich das politische Klima in Deutschland in den letzten zehn Jahren verändert?
Katja Berlin: Es ist rechter geworden. Die Grenzen des Sagbaren haben sich verschoben, wie es so schön heißt. Wir erleben gerade einen echten Backlash, nachdem es kurz so aussah, als könne sich Deutschland auch mal für die Zukunft interessieren und nicht nur für die Vergangenheit.
FACES: Wie ist deine Grundstimmung, wenn du auf die momentane Situation in der Politik schaut? Wütend, frustriert, optimistisch, ängstlich, inspiriert (weil es wohl ziemlich viel Material für neue Torten gibt)?
Katja Berlin: Ja, und zwar alles gleichzeitig! Aber ein bisschen Hoffnung habe ich noch. So ganz ohne Hoffnung könnte ich meinen Job wohl an den Nagel hängen.
FACES: Was kann man tun – außer tolle Torten zu zeichnen – um mit dem Rechtsrutsch und anderen gesellschaftlichen Problemen klarzukommen? Was tust du persönlich?
Katja Berlin: Es ist wichtig, dass wir uns informieren – und zwar nicht auf TikTok. Ich erlebe in meinem Umfeld, dass selbst aufgeklärte Menschen auf Fake News hereinfallen. Da müssen wir uns gegenseitig helfen und korrigieren. Wir stecken ja in einem internationalen Informationskrieg. Desinformationen, Propaganda und Falschmeldungen prasseln jeden Tag auf uns ein und nicht alle erkennen wir als solche. Die Wahrheit ist aber manchmal gar nicht so düster und mit ein bisschen mehr Hintergrundwissen fühlen wir uns weniger ohnmächtig.
FACES: Brauchen wir im Alltag mehr oder weniger politische Debatte?
Katja Berlin: Ich erlebe privat so viel politische Debatte wie nie zuvor. Der russische Angriffskrieg, die Klimakrise oder der Rechtsextremismus werden ja jetzt schon im Small Talk thematisiert. Da wäre es vor zehn Jahren noch lediglich ums Wetter gegangen. Wie schön es wäre, wenn wir irgendwann wieder nur noch langweilige Gespräche über den Job führen, weil uns sonst nichts einfällt.
FACES: Was ist das Dümmste, was du je von einem Politiker oder einer Politikerin gehört hast?
Katja Berlin: Ich glaube, Dummheit ist nicht das Problem, sondern der permanente Appell an niedere Instinkte und der geschieht ja durchaus bewusst.
FACES: Werden wir in 50 Jahren weiterhin in einem kapitalistischen System leben oder kommt da noch was?
Katja Berlin: Sehr gute Frage! Das wüsste ich auch gerne.
„Wir Menschen ändern ja am liebsten gar nichts, außer uns zwingt eine akute Krise dazu.“
FACES: Noch vor „Was Rechtspopulisten fordern“ erschien „Wofür Frauen sich rechtfertigen müssen“. Wofür musst du dich am meisten rechtfertigen? Und wofür willst du dich keinesfalls rechtfertigen müssen?
Katja Berlin: Ich rechtfertige mich nie für meine persönlichen Lebensentscheidungen, auch wenn die natürlich wie alle persönlichen Lebensentscheidungen von Frauen immer wieder gerne in Frage gestellt werden.
FACES: Was ist der beste Ratschlag, den heute eine junge Frau mit auf den Weg bekommen kann?
Katja Berlin: Ich hüte mich vor guten Ratschlägen, aber ich weise immer wieder gerne auf strukturelle Probleme hin. Kein Girlboss, keine „starke Frau“ kann diese Probleme aus dem Weg räumen, indem sie sich einfach nicht so anstellt oder indem sie sich anders verhält. Wenn du an mangelnder Vereinbarkeit verzweifelst oder sexuelle Belästigung erlebst, ist es nicht deine Schuld.
FACES: Was sind drei ganz einfache Dinge, die ein Mann tun kann, um kein Idiot zu sein?
Katja Berlin: Erkennen, dass Frauen Menschen sind, ihnen zuhören und glauben. Aber ob das jetzt ganz einfache Dinge für einen Mann sind, hängt natürlich sehr von ihm ab.
FACES: Was antwortest du Leuten, die sagen, Humor dürfe heute viel weniger?
Katja Berlin: Im Gegenteil, heutzutage darf Humor doch viel mehr. Es dürfen auch endlich Menschen lustig sein, die keine heterosexuellen weißen Männer sind. Jetzt hören wir so viele neue Pointen aus anderen Perspektiven, der Humor wird dadurch vielfältiger und besser. Wer sich jetzt mal einen deutschsprachigen Film anschaut, der in den Achtzigern als witzig galt, weiß, was ich meine.
FACES: Wann hast du zum ersten Mal bemerkt, dass du Leute zum Lachen bringen kannst?
Katja Berlin: Wahrscheinlich in der Schule.
FACES: Wer ist der witzigste Mensch, den du kennst?
Katja Berlin: Oh, das kann ich nicht sagen. Aber Tina Fey und Maya Rudolph stehen in meinen Top Ten.
„Ohne Verdrängung würden wir natürlich durchdrehen.“
FACES: Deutscher Humor wird im Ausland oft belächelt. Zurecht?
Katja Berlin: Ja, der ist leider noch ausbaufähig. Deutscher Humor arbeitet gerne mit Abwertung Schwächerer, was eher spaltet als verbindet, und er braucht auch oft einen gewissen Rahmen, in dem er akzeptiert wird. Witze bei der Karnevalsrede ja, aber Witze in einem Meeting? Da hört der Spaß aber auf, Freundchen.
FACES: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“. Solche Sprichwörter gibt es zuhauf. Wenn aber die die Politik rasant nach rechts rutscht, die Erde wortwörtlich jedes Jahr mehr brennt, und Flüchtlinge zu tausenden ertrinken, Menschen in Palästina und Israel zu tausenden sterben – und wir das alles auf Social Media betrachten – reicht Humor da noch aus? Müssten wir nicht längst alle durchdrehen? Bis wohin reicht Humor, um mit diesen Dingen klarzukommen, und ab wann reicht er nicht mehr?
Katja Berlin: Mir ist am 7. Oktober tatsächlich das Lachen vergangen und ich dachte, so, das war’s. Ich gebe jetzt auf und ziehe in den Wald, die Menschheit ist einfach zu schlimm. Und es hat eine Weile gedauert, bis ich dieses Gefühl wieder so weit zurückdrängen konnte, dass ich für andere Emotionen offen war. Ohne Verdrängung würden wir natürlich durchdrehen, aber wir müssen auch noch genug Schmerz durchlassen, um nicht ignorant zu werden. Und diesen Schmerz ertrage ich zumindest besser mit Humor.
FACES: Wie gut macht die deutsche Presse ihren Job?
Katja Berlin: Den macht sie im Großen und Ganzen gut. Aber wir spüren natürlich schon einen ökonomischen Druck bei der Themenauswahl und bei der Tiefe der Recherche. Ich zahle deshalb auch gerne sowohl meine Rundfunkgebühren als auch für Online-Abos, um die Vielfalt weiterhin nutzen zu können.
FACES: Über welche Nachrichtenmeldung hast du dich zuletzt so richtig gefreut?
Katja Berlin: „EU verabschiedet Gesetz zur Renaturierung“ – das war endlich mal wieder eine Schlagzeile über die EU, in der es nicht um Faschisten ging.
FACES: In einer gerechten Welt bräuchte es keine Torten der Wahrheit mehr. Wie sähe diese Welt für dich aus?
Katja Berlin: Dafür reicht mein Vorstellungsvermögen nicht.
FACES: Was macht dir am meisten Hoffnung für unsere Zukunft?
Katja Berlin: Wir Menschen ändern ja am liebsten gar nichts, außer uns zwingt eine akute Krise dazu. Und jetzt haben wir ja so viele Krisen, dass uns gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als doch mal ein paar Dinge anders und besser zu machen.
FACES: Wie isst du Torte: Gabel, Löffel, von Hand?
Katja Berlin: Gar nicht, ich bevorzuge Herzhaftes.
Katja Berlin: Was Rechtspopulisten fordern
Der Rechtsruck in der Politik ist beängstigend, doch Katja Berlin findet auch dann den Humor, wenn andere längst verzweifeln. Mit ihren berühmten Tortendiagrammen zeigt sie in ihrem neuen Buch, dass es bei so einigem, was die AfD erzählt, an Logik fehlt. Und sorgt so nicht nur für Lacher, sondern auch für eine nötige Prise Hoffnung mitten in besorgniserregenden politischen Entwicklungen.
Katja Berlin, „Was Rechtspopulisten fordern: Ein Manifest gegen den Rechtsruck in satirischen Grafiken“, YES publishing, ca. 15.–, m-vg.de
Auch wenn es um Familie geht, braucht man oft eine gute Portion Humor. Die Kuratorin vom Kunstmuseum St. Gallen hat mit uns über das komplexe Thema gesprochen.
Wenn du jetzt metaphorischen Hunger auf noch mehr Torten gekriegt hast, solltest du dich auf Katjas Webseite umsehen.