Wo sich andere die Seele aus dem Leib schreien, schmettert Jess Glynne die Töne ganz locker aufs Band – so, als würde sie nie an ihre stimmlichen Grenzen stoßen. Sie, die aussieht wie eine Löwin, singt wie eine Löwin und kämpft wie eine Löwin.
Ein heißes Bild einer Londonerin: zerzauste, rote Locken, zerrissene Jeans, Bomberjacke, bauchfreies Shirt. Dazu eisblaue Augen, lasziver Blick, volle Lippen, rauchige Stimme. Holy! Es beschreibt Jessica Hannah Glynne, die 1989 in Hampstead in eine jüdische Familie geboren wurde. Ihre Mutter arbeitete bei Atlantic Records, ihr Vater als High-End-Makler, aufgewachsen ist sie in Muswell Hill, Nord-London. Auf der musikalischen Fortismere School war sie ein Teenager, der als nicht sonderlich talentiert galt. Schlichtweg nicht gut genug. Auch ihr Vorsingen bei der Castingshow „The X-Factor“ scheiterte. 2008 hatte Jess ihr A-Level in der Tasche und vorerst genug von der Musik. Sie bereiste die Welt, jobbte in einem Friseursalon, einer Boutique, einem Fitnesscenter. Zurück kam sie mit wenig nützlichen Zukunftsideen. Ein Studium interessierte sie nicht, eigentlich wollte sie ja doch Musik machen. Irgendwie. Blöd nur, dass sie immerzu die Vernunft ihrer Eltern im Ohr hatte „niemals alles auf eine Karte zu setzen“. Es musste also ein vernünftiger Job her. Jess kam in einer Management-Agentur unter. Fachrichtung: Alkohol. Sehr gut. Dort hatte sie nicht nur mit so viel Hochprozentigem zu tun, dass sie endgültig die Schnauze voll davon hatte, sondern sie lernte auch die Basics des Business’: Werbung, Netzwerke, Promotouren. Vor allem aber lernte sie, dass sie selbst Künstlerin und nicht die hinter den Kulissen sein wollte. Motivation genug, wieder mit dem Schreiben zu beginnen. Vier Jahre lange feilte sie an ihrer Kunst und besuchte indes einen Musik-Kurs am East London College, wo sie ihre späteren Freunde, Songwriterin Janée „Jin Jin” Bennett und Produzent Bless Beats, traf. Die drei hatten das gleiche Musikgespür und arbeiteten fortan am ungeschliffenen Soul-Diamanten Jess Glynne. Eine der daraus entstandenen Kompositionen weckte die Aufmerksamkeit des Labels Black Butter, das Glynne daraufhin mit Insidern bekanntmachte. 2013 war es dann soweit: Jess Glynne kündigte ihren Job und unterzeichnete einen Vertrag bei Atlantic Records, dem gleichen Label, dem auch die Elektro-Pop-Gruppe Clean Bandit angehört. Ungünstig, dass es zu genau dieser Zeit privat kriselte und Glynnes Beziehung in die Brüche ging. Ihre große Liebe war das erste Mädchen, in das sich Jess Glynne verliebte. Sie verarschte sie, brach ihr das Herz, und doch hatte das Liebesdrama etwas Gutes: Glynne vereinte genügend Trauer, Wut und gleichzeitig Freude über den Plattenvertrag in sich, um all diese Emotionen in hoffnungsvolle Songtexte zu verwandeln. Es dauerte nicht lange, bis Clean Bandit auf den Zuwachs beim Label aufmerksam wurden und Glynnes Stimme für ihren Song „Rather Be“ haben wollten. Punktladung. Ein Grammy weilt dank dieses Songs bereits in Glynnes Vitrine. Auch der Produzent Rowan Tyler Jones aka Route 94 witterte seine Chance. Für ihn schrieb Jess schließlich „My Love“ um und sang den Song neu ein. Der nächste Chartstürmer. Nun war es jedoch mal Zeit für Jess Glynnes erste eigene Single. Der große Erfolg sollte mit „Right Here“ allerdings ausbleiben. Und nun? Zurück zu Clean Bandit. Wieder eine gute Entscheidung, auch „Real Love“ kam gut an. 2015 brach der Featuring-Fluch und Jess Glynne landete mit „Hold My Hand“ ihren ersten eigene Nummer-Eins-Hit. Das war sie, die Löwin.