Latex oder Schleifen? Cosplay, HipHop oder Gothic? In Japan blühen die Subkulturen wie die Kirschblüten im Frühling. Und haben sich die Japaner einmal ihrer Szene verschrieben, gibt es kein Halten mehr. Dann werden aus Begeisterten angefressene Fans und Menschen, die ihre Kultur leben – zuhause, auf der Straße, heute und morgen. Die coolsten hat Irwin Wong fotografiert und daraus gemeinsam mit gestalten eine Enzyklopädie der Subkulturen erstellt. „The Obsessed“ ist deren Bühne und der folgende Ausblick dein Amuse Bouche.
Fotos: Irwin Wong, gestalten
The Obsessed
Aus dem hippen Melbourne ins noch hippere Tokio: Seit 2005 nennt Irwin Wong die japanische Hauptstadt sein Zuhause, ein Daheim, in dem die Subkulturen sprudeln wie Bläschen im Mineralwasser. Von Cosplay bis Gothic, Rockabilly, HipHop, Lolita bis Anime: Nirgends versammeln sich so viele Leidenschaften in einer Stadt, die so bunt sind wie die Maki und Nigiri, die sich die Japaner einverleiben wie ihre liebste Szene. Irwin Wong und gestalten versammeln die coolsten, ausgefallensten, witzigsten und unglaublichsten Fans und deren Geschichten im Buch „The Obsessed“, einem Werk, aus dessen Seiten Passion und Faszination tröpfeln. Irwin Wong & gestalten, „The Obsessed. Otaku, Tribes, and Subcultures of Japan“, ca. 40.–
Akizuki Ai
Süßer als dreifach gezuckerter Tee: Wer sich mit Akizuki Ai zum Tee-Klatsch trifft, der zelebriert wie sie die Lolita-Mode. Tutus und Blüschen, Schleifen und Rüschen, Rosa und Pink und Babyblau und von all dem so viel, dass ein Minimalist glatt in Tränen ausbrechen würde: Das ist Teil der Lolita-Bewegung, die das Süße, Unschuldige und Niedliche zelebriert wie der englische König seine Tea Time. Akizuki Ai erinnert sich an keine Zeit, in der sie nicht mit klimpernden Puppenaugen und berüschtem Kopf durch die Straßen zog – und vielleicht ist sie genau deshalb sowas wie die Königin der Lolitas, die für eine Zeremonie mit Ai auch das schönste Haarband hergeben würden.
Tanganmen
Nicht im Traum hätte Ozawa Dango daran gedacht, mit ihrer Liebe zur Zyklopen-Maske eine eigene Subkultur zu kreieren. Doch Chimo, wie sie ihren Charakter nennt, kommt an. Die Masken verkaufen sich besser als eiskalter Grüntee an einem heißen Sommertag. Chimo ist ein normales Mädchen, das auf coole Kleidung steht – und nun mal nur ein Auge hat. 2012 feiert Dango mit ihrem Alter Ego Premiere am Indie-Festival Design Festa, wo sie von der Begeisterung des Publikums beinahe erdrückt wird. Wer seinesgleichen sucht, besucht das Kaffee Monster Party in Akihabara, das die Chimo-Masken als eines der ersten großflächig zelebriert.
Kamen Joshi
Das S auf der Brust und die Faust gen Himmel? Gääähn. Superheldinnen gehen auch anders – beweisen die Kamen Joshi, sogenannte Underground-Idole, die sich zur umhangtragenden Superwoman verhalten wie Nirvana zu den Backstreet Boys. Kostüme wie vom Laufsteg, Masken wie aus dem Horrorfilm und eine Attitüde, mit der sie jeden aus dem Weg scheuchen, der es wagt, an ihrer Legitimation zu zweifeln: Das sind die Kamen Joshi, Anti-Heldinnen, so weit weg vom Mainstream wie Japan von Europa.
Grow Hair
Eine Schuluniform zu tragen, ist alles, was es für Kobayashi Hideaki brauchte, um berühmt zu werden. Schon als Dreikäsehoch war der heute 58-Jährige fasziniert von den süßen Uniformen, die ihm jedoch stets verwehrt blieben. Ein Ramen-Restaurant gab Hideaki mit seiner Werbekampagne schließlich einen guten Grund, in der dunkelblauen Matrosenuniform aufzukreuzen: Jeder, der sich in diesem Aufzug an den Tresen setzte, sollte eine kostenlose Mahlzeit erhalten. Seitdem zieht der grauhaarige Mann seine Uniform nur noch zum Waschen aus und ist als Grow Hair oder Sailor Uniform Grandpa ein regelrechter Touri-Magnet.
Toriena
Wer spricht denn noch von Turntables? Toriena revolutioniert mit ihren Elektro-Tunes die japanische Musikszene – doch die kommen weder aus dem Computer noch vom Transformer, sondern ganz einfach aus dem Gameboy. Nintendo freut’s, kriegt die über 30 Jahre alte Konsole doch damit neuen Aufwind. Viele schütteln über Torienas Musikinstrument den Kopf, und sie? Sie liebt das Teil trotz – oder gerade wegen – seines 4-bit Sounds.
Kurage
Latex ist mehr als reine Fetisch-Grundlage. In Tokio nämlich tatsächlich Kunst. Kid’0 ist der Gründer der Marke Kurage und ein Künstler in der Verarbeitung des knallbunten Materials. Zahlreiche japanische UnterhaltungskünstlerInnen setzen auf seine Expertise und seine Kostüme, wobei Kid’0 mit seinen Entwürfen und einer maßlosen Show auch selber um die Welt tingelt.