Die Geschichte von Wannasiri Kongman und Jesse Dorsey sorgt gar bei Cinderella für Schnappatmung. Die Thailänderin und der Kanadier treffen sich in den 90ern in New York. Da ist Liebe, da ist Leidenschaft – und diese Idee von der eigenen Tasche. Über zwanzig Jahre später sind die Handtaschen von Boyy auf dem Mode-Parkett eine standfeste Nummer – und Wannasiri und Jesse noch immer das Paar, das auf der Straße alle Blicke auf sich zieht. Ein Gespräch über Zufälle und die Macht des eigenen Bauchgefühls.
FACES: Ihr habt euch in New York City kennen gelernt. Liebe auf den ersten Blick?
Jesse Dorsey: Das war 2004, ein grauer Februar, und dass wir uns überhaupt getroffen haben, war ein kompletter Zufall. Wir hatten keine gemeinsamen Freunde, keinerlei Überschneidungen. Wir sind dann in irgendeinem Club aufeinander getroffen, einfach so, niemand hat uns einander vorgestellt. Es war Schicksal, so kann man das wohl sagen.
F: Was hast du denn gedacht, als du Jesse zum ersten Mal gesehen hast?
Wannasiri Kongman: Es war wie im Film. (lacht) Er hat mich gegrüßt, und ich habe hinter mich geblickt, weil ich annahm, er würde zu jemand anderem sprechen. Ich fand ihn heiß, sehr heiß sogar und das von Beginn weg!
F: Der Grundstein eurer Beziehung war gelegt. Wie ging es dann weiter bis dahin, wo ihr euch entschieden habt, ein eigenes Modelabel zu gründen?
JD: Ich war damals Musiker und DJ, produzierte sogar Soundtracks und alles mögliche, um mich in New York über Wasser zu halten. Dann traf ich Wannasiri und merkte schnell, wie besessen sie von Handtaschen war. Wir spazierten dann zum Beispiel durch Downtown Manhattan, und sie kannte die Namen aller It-Bags, die die New Yorkerinnen durch die Straßen trugen. Für mich war das ein regelrechter Crash-Kurs in Sachen Luxustaschen! (lacht)
F: Und du hast dich schließlich von ihrer Begeisterung anstecken lassen.
JD: Ja, absolut! Plötzlich ging es mir genauso; ich konnte mich kaum mehr irgendwo bewegen, ohne dass mir die Handtaschen nicht direkt ins Auge sprangen. Ich hoffte, die Damen würden meine Blicke nicht missverstehen, interessierte ich mich doch bloß für die Handtaschen und gar nicht für sie. (lacht)
Erst die Liebe, dann das Business
F: Wie wurde aus dieser Leidenschaft schließlich ein Business?
JD: Wir haben oft darüber gesprochen, selbst eine Handtasche zu designen. Das fühlte sich damals natürlich alles noch sehr abstrakt an, schließlich hatten weder Wannasiri noch ich die blasseste Ahnung davon, wie man tatsächlich Mode designen und herstellen würde. Ich machte ja Musik, sie studierte Journalismus.
F: Haben euch deine Kontakte aus der Musikwelt geholfen?
JD: Ich wusste, dass es nicht leicht werden würde. Also rief ich einige Leute an, und auch Wannasiri aktivierte ihr Netzwerk. Dann kamen wir irgendwie zu diesem Mann in New York, der Muster produzierte; dieser schickte uns aber zuerst zu einem anderen, ein paar Blocks weiter, wo wir Leder kaufen mussten. Wir hatten zwar keine Ausbildung in Mode, befanden uns aber mitten im Herz dieser Modemetropole – wir spürten den Puls der Stadt und der Branche.
F: Welchen Rat hättet ihr euch damals gewünscht?
WK: Ganz ehrlich: Hätten wir damals mehr darüber gewusst, wie man einen eigenen Brand aufbaut, hätten wir diesen Schritt wahrscheinlich gar nicht erst gewagt.
JD: Wir hatten keine Erwartungen und mussten uns mit niemandem messen. Wir waren einfach zwei junge Erwachsene mit Leidenschaft und einer Idee. Der Fakt, dass wir so unerfahren waren, hat uns schließlich zum Erfolg gebracht.
Keine Regeln, keine Sorgen
F: Ihr habt euch an keine Regeln gehalten und euch auch gar keine Sorgen gemacht, richtig?
WK: Genau. Wir dachten gar nicht darüber nach, dass wir ein Marketing- oder PR-Team brauchen würden, sondern entwarfen einfach unsere Tasche und kümmerten uns dann darum, wie wir diese nun verkaufen sollten.
F: War die Modebranche damals besser als heute?
WK: In den Neunzigern war die Modebranche ein Geheimclub. Da kamst du nicht einfach so rein. Die einzige Möglichkeit, von Menschen gesehen zu werden, war damals, in Magazinen abgedruckt zu werden. Heute ist alles anders. Heute hat jeder und jede die Möglichkeit, in die Modebranche einzusteigen, ein eigenes Label zu gründen und die eigenen Kollektionen öffentlich zu machen.
F: Social Media leistet seinen Beitrag zur Demokratisierung der Modebranche. Auf der anderen Seite erhöhen die sozialen Medien auch den Druck. Stimmt ihr zu?
WK: Natürlich profitieren wir mit Boyy davon, dass man uns und unsere Kollektionen auf der ganzen Welt sieht. Geht es ums Business, ist Instagram eine tolle Plattform, um Aufmerksamkeit zu generieren und mit seiner Community im ständigen Austausch zu sein. Rein persönlich gesehen, mag ich die sozialen Medien allerdings nicht besonders. Die Balance zu halten, ist enorm schwierig.
JD: Als wir mit Boyy begonnen hatten, gab es zwar bereits Blogs, aber die Anzahl an Modebrands und DesignerInnen war verglichen zu heute viel überschaubarer. Das betrifft nicht nur die Mode, sondern auch die Musik.
Manchmal regelt es der Zufall
F: Es gibt diese Geschichte von Lou Doillon und Boyy. Erzählt ihr mir sie?
JD: Diese Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr dich Social Media pushen kann. Lou Doillon stand in New York an der 42nd Street, rauchte eine Zigarette, trug eine unserer Taschen und wurde damit fotografiert. Das war purer Zufall! Dieses Bild ging viral und half uns enorm. Heute passiert dir sowas kaum mehr, es ist einfach viel zu viel, was auf Instagram und in anderen sozialen Medien geschieht.
WK: Der Unterschied zu heute besteht darin, dass man damals wusste, dass es authentisch war. Es war echt. Heute ist vieles fake.
F: Zufall spielt eine große Rolle in eurem Leben. Glaubt ihr überhaupt an dieses Konzept?
WK: Ich glaube eher daran, dass es so kommen musste, wie es kam. Mit viel Glück!
F: New York war also überzeugt, und nach und nach kam die ganze Welt auf den Geschmack eurer Taschen. Dänemark war dann einer der ersten Orte, an dem ihr ein eigenes Geschäft eröffnet habt. Wie kam es dazu?
JD: Dänemark war damals für uns einer der größten Märkte. Also beschlossen wir, auf einem Europabesuch auch nach Kopenhagen zu reisen. Wir spazierten einfach die Straße entlang, sahen dieses eine Gebäude und das Schild, auf dem stand, dass diese Liegenschaft zu haben sei. Wir waren drei Tage lang dort und verließen die Stadt schließlich mit einem neuen Ort für ein Geschäft in der Tasche!
WK: Dann ging es sechs Monate, bis wir eröffneten. Wir gingen hier einmal mehr genauso vor wie bei der Gründung von Boyy: Wir hörten auf unser Bauchgefühl und machten einfach. Wir haben davor keine Analyse durchgeführt oder uns genau überlegt, ob dieser Schritt richtig sei – wir fühlten es einfach.
JD: Das ist sowas wie unser Mantra: Wenn unser Bauchgefühl uns sagt, wir sollen etwas tun, dann vertrauen wir darauf.
F: Wie beschreibt ihr eure Erfolgsformel?
JD: Glück und Ehrgeiz, das wars.
Boyy und die Liebe zu Mailand
F: Ihr steckt viel Mühe in das Design eurer Shops. Das gilt sicherlich auch für euer eigenes Zuhause. Wie müssen wir uns eure Wohnung in Mailand vorstellen?
JD: Wir haben diese ganz ausgefallene Wohnung in Mailand gefunden, die wir nach drei Jahren Mieterdasein gekauft haben. Die Einrichtung davon ist ein ständiger Prozess. Wir möchten in Zukunft einiges renovieren und kaufen auch immer mal wieder neue Teile dazu. Du musst wissen, dass unser Zuhause 1972 von einem der berühmtesten italienischen Brutalismus-Architekten renoviert wurde. Das führt dazu, dass ich mich täglich fühle, als lebte ich inmitten einer italienischen Sehenswürdigkeit. (lacht)
F: Klingt nach einer wahren Perle!
JD: Du solltest die Möbel sehen, alle damals in den Siebzigern extra für diese Wohnung entworfen.
F: Habt ihr unter euren Möbeln euch ein liebstes Stück?
JD: Wir besitzen diese großartigen Stücke, die der dänische Künstler Fos für die Geschäfte von Céline entworfen hat, als Phoebe Philo noch für den Brand verantwortlich war. Heute arbeiten wir sogar mit ihm zusammen. Dann haben wir diesen tollen Tisch von Carlo Scarpa, den ich sehr liebe und noch ganz viel anderes.
F: Wie beschreibst du euren Einrichtungsstil?
JD: Würdest du uns zuhause besuchen, fändest du dich in einem 70er Universum wieder! Aber nicht dieses kitschige 70er-Zeug, sondern diese minimalistische Richtung, die bis heute Bestand hat.
F: Wenn ihr so auf die 70er steht, kauft ihr bestimmt auch viele Vintage-Teile in Secondhand-Geschäften!
JD: Ja, ich bin ein großer Vintage-Käufer, und nein, nicht im Geschäft, sondern über Auktionen. Dafür reise ich nach Deutschland, Holland oder Italien – ich suche diese ausgefallenen Teile und reise diesen dann tatsächlich hinterher.
Der Stil von Wannasiri und Jesse
F: Von Möbeln zurück zur Mode. Wart ihr schon immer interessiert an Trends und Mode?
JD: Die 80er waren mein Jahrzehnt, damit bin ich aufgewachsen. Ich liebte Skateboarding und diese ganze Kultur drumherum. Dann kam irgendwann Ralph Lauren dazu, später Fiorucci aus Italien, das ich von den Covers von Madonna kannte. Mein Bruder fuhr in Sachen Mode eine ganz andere Schiene. Er trug viel von Issey Miyake oder Yohji Yamamoto und veranstaltete sogar eine Modenschau in der Schule. Mode war stets sehr präsent in meinem Leben.
WK: Mode war das einzige, was mich wirklich interessierte. Ich sah diese tollen Schuhe oder Taschen in Musikvideos und wusste immer genau, welche Teile ich haben wollte. Mit zehn veranstaltete ich nachts zuhause dann diese Shootings, in denen ich mich selbst stylte und wie für ein Magazin-Cover ablichtete. Ich liebte das, meine FreundInnen und mich zu stylen, es war meine große Leidenschaft, und ich war absolut besessen davon, stets den richtigen Look zu kreieren.
F: Wie muss ich mir deinen Stil vorstellen, als du nach New York kamst?
WK: Zuhause bei meinen Eltern und dort, wo ich aufgewachsen bin, passte ich so gar nicht ins Schema. Viele Menschen verstanden mich nicht, weil ich mich einfach viel ausgeflippter kleidete als sie. Als ich dann nach New York zog, fühlte ich mich regelrecht befreit.
F: Erinnerst du dich an eines deiner ausgefallensten Outfits?
WK: Es war das Jahr 2000, und ich trug diesen exzentrischen Vintage-Gürtel, mit dem ich mich fühlte wie Carrie Bradshaw in „Sex and the City“. (lacht) Der Manager des Restaurants, in dem ich damals arbeitete, schimpfte deshalb mit mir, weil er mein Outfit so unmöglich fand. In dem Moment habe ich gelernt: Mir ist es egal, was du über mich und meinen Look denkst.
Vielleicht zieht Boyy bald nach Zürich?
F: Zürich hat euch sogar zu einer Kollektion inspiriert. Wie gefällt euch die Stadt?
WK: Zürich ist für mich immer noch ein Geheimtipp. Viele Menschen haben die Stadt wohl gar nicht auf dem Schirm – und das, obwohl sie so viel zu bieten hat!
JD: Ich mag das, wenn eine Stadt nicht so berühmt oder bei allen beliebt ist. Das verhält sich mit Mailand genauso. Nicht jeder mag Mailand, und nicht jeder hat Zürich auf dem Schirm. Allerdings haben beide Städte so viel zu bieten und so viele grandiose Orte, Restaurants und Cafés – es macht einfach Spaß, hier Zeit zu verbringen.
WK: Ich denke tatsächlich darüber nach, nach Zürich zu ziehen! Ich möchte Zürich unbedingt im Sommer erleben. Ich will die Menschen sehen, wie sie den Sommer am See verbringen und gleichzeitig inmitten der Stadt sind. Es muss großartig sein!
F: Es würde mich nicht wundern, wenn ihr bald eine Wohnung in Zürich hättet! Spontane Entscheide zu treffen, ist euer Ding. Welche anderen Charakteristika des jeweils anderen sind für euch besonders wichtig?
JD: Wannasiri ist sehr spirituell, während ich ein enormer Kopfmensch bin. Während ich in der Vergangenheit häufig zu oft über etwas nachgedacht habe, hat sie einfach getan, was sie wollte, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen. Das bewundere ich sehr, und es inspiriert mich von Tag zu Tag.
WK: Nachdem wir schon so lange zusammen sind, habe ich den Eindruck, dass wir uns immer mehr dem jeweils anderen angepasst haben. Ich mache mir mittlerweile auch mehr Gedanken über das Leben und über alles, was vor mir liegt, als früher. Jesse hat mich auf diesem Weg stets begleitet, er unterstützt mich sehr, und das liebe und schätze ich enorm an ihm.
Happy End in Sicht
F: Welcher Augenblick oder Moment macht euch rückblickend auf eure Gründungsgeschichte besonders sentimental?
JD: Rückblickend fühlt sich alles an wie ein Märchen oder als hätten wir im Lotto gewonnen. Es war toll, ohne Erwartungen einfach an unseren Kollektionen arbeiten zu können. Unser erster Showroom war die Küche in meiner New Yorker Wohnung. Wir haben es geschafft, aus einem Dollar zwei zu machen und daraus vier und so weiter.
F: Habt ihr das Gefühl, euer Happy End bereits erreicht zu haben?
JD: Wir sind beides Menschen, die immer nach vorne blicken. Natürlich könnten wir längst einfach in den Sonnenuntergang segeln, aber so sind wir nicht, wir wollen mehr.
Boyy
Boyy ist das Baby von Jesse Dorsey und Wannasiri Kongman. Sie ist Journalistin, kommt aus Thailand und ist gerade neu in New York, er stammt aus Kanada, ist Musiker und sofort verzaubert von dieser Frau, die mit Designertaschen am Arm durch Big Apples Straßen tänzelt und dabei vom eigenen Brand fantasiert. Feuer, Temperament, Optimismus und die große Liebe zu Design schweißen Jesse und Wannasiri zusammen – und bilden die Basis ihres eigenen Brands Boyy, dessen Taschen schnell die 0815-It-Bags aus der Hand der Modemenschen fegt. Der Erfolg bestätigt die beiden darin, weiterzumachen. Und das tun sie: Mit Schuhen, Accessoires und so vielen Ideen, dass die Zukunft nicht schnell genug kommen kann. boyy.com
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Teaserfoto und Fotos: © Boyy