Vom Gericht übers Cabaret in die Gastronomie und zur Mode: Michèle Lamys Leben liest sich wie ein von Scheherazade am knisternden Lagerfeuer erzähltes Märchen.
Michèle Lamy ist keine Hexe. Und auch keine verrückte Hellseherin, obwohl man ihr die Kristallkugel ohne Wimpernzucken zuschreiben würde. Schwarzes Haar, goldverkronte Schneidezähne, dunkel tätowierte Fingerspitzen. Lamy ist nicht aus Effekthascherei Exzentrikerin. Sie ist ganz sie lebst, wie ein Fabelwesen, ein Einhorn vielleicht, das man einmal gesehen, nie vergisst. Die Mythen um ihr Leben ranken sich wie Efeu an Rapunzels Turm. Sie sei Zigeunerin, munkeln die einen, die Tochter eines Arabers, die anderen. Dabei ist alles anders: Michèle Lamy wird in der Nähe von Oyonnax in den französischen Alpen geboren. Mit 20 will sie weg aus der Provinz. Die wohlhabende Familie bleibt zurück, ebenfalls das Studium der Rechtswissenschaften. Lamy tauscht Anwaltsrobe gegen Nippelhütchen und die Kanzel gegen die Stange. Ihre Zwanziger verbringt sie in den Pariser Cabarets, ihre Dreissiger in Kalifornien. Sie heiratet, lässt sich scheiden und bringt dazwischen ihre Tochter zur Welt, Scarlett Rouge. Danach zieht es Lamy an die Westküste der USA. In Los Angeles eröffnet sie Mitte der Neunziger das sagenumwobene Restaurant „Les Deux Cafes“, mit dem „Café des Artists“ kommt bald ein zweites dazu. Hier singen Joni Mitchell und Boy George, während Madonna und Brad Pitt auf den Tischen tanzen und Grace Jones und Liza Minelli a capella singen. Auch Designer Rick Owens feiert unter Lamys Dach, die beiden werden Partner. Erst rein beruflich, denn Michèle Lamy sucht Unterstützung für ihr eigenes Modelabel. Es geht hin und her, sie hilft ihm und er ihr, bis die beiden nicht mehr ohne einander können. Owens und Lamy ziehen nach Paris, richten sich in einem Apartment ein mit Voodoo-Masken und schweren Samtvorhängen, einem Ort, an dem ein Funken Magie in der Luft hängt. Sowas passt zu Michèle Lamy, die sich mittlerweile eine vertikale Linie auf die Stirn malt, um „auf dem Boden zu bleiben“, wie sie sagt. Angesprochen auf ihren Glauben, lächelt sie milde: „Belief is a way to express a memory of your genes.“ Es ist ihre Aura, die die Menschen fesselt und fasziniert, beinahe so, als wüsste Lamy auf alles eine Antwort und zu jedem Problem eine Lösung. Künstler und Stars gehen beim Mode-Paar ein und aus – hier kann man diskutieren und philosophieren, über das sprechen, was war und noch sein wird, spekulieren und träumen. Mittlerweile entwirft Michèle Lamy für das Label Rick Owens, sie wird für Installationen und Vorträge an Kunst-events wie der Art Basel auf der ganzen Welt angefragt. Es sind Happenings, wenn Lamy mit ruhiger Stimme und französischem Akzent auf Englisch die Welt erklärt oder es zumindest versucht. Sie tut dies ohne zu richten oder zu urteilen, sie nimmt ihr Gegenüber wie es ist. Vielleicht, weil sie Begegnungen sammelt wie die Ringe an ihren Fingern. Kürzlich ergänzt sie ihre Sammlung durch UNKLE und ASAP Rocky, mit denen sie Songs produziert. Etwas, das man ihr, einer Frau über 70, nicht zutrauen würde. Aber genau darum geht es ja, schließlich gehört es zu Michèle Lamys wichtigstem Credo: Überrasche jeden Tag und immer wieder aufs Neue.